Hercule Poirot schläft nie
Plenderleith jedoch weiß, dass man sich immer noch dafür interessieren könnte, was sie tut, wirft sie zur Irreführung jenes Köfferchen in den See – auf eine Art und Weise, die Aufsehen erregt, natürlich. Und das, mein lieber Freund, ist das ganze ›Geheimnis des kleinen Ko f fers‹.«
Japp sah seinen Freund eine Weile schweigend an. Dann erhob er sich, klopfte Poirot auf die Schulter und brach in Gelächter aus.
»Nicht übel für einen alten Knaben wie Sie. Wirklich, Sie haben wieder einmal den Vogel abgeschossen. Ko m men Sie, essen wir einen Happen zu Mittag.«
»Mit Vergnügen, mein Freund, aber nicht nur einen Happen. Vielleicht Omelette aux Champignons, dann Bla n quette de Veau, petits Pois à la Française und zum Abschluss Baba au Rhum.«
»Führen Sie mich hin«, sagte Japp.
Urlaub auf Rhodos
H ercule Poirot saß im weißen Sand und sah auf das gli t zernde blaue Meer hinaus. Er wirkte sehr gepflegt in seinem dandyhaften Anzug aus we i ßem Flanell und mit dem breiten Panamahut. Er gehörte zu jener altmodischen Generation, die glaubte, sich sor g fältig vor der Sonne schü t zen zu müssen. Miss Pamela Lyall, die neben ihm saß und ununterbrochen redete, verkörperte den mode r nen Typ, denn sie trug nur ein äußerstes Minimum an Kleidung auf ihrer sonneng e bräunten Haut.
Ab und zu versiegte ihr Redestrom, wenn sie sich mit dem öligen Inhalt einer Flasche eincremte, die neben ihr stand.
Auf der anderen Seite von Miss Pamela Lyall lag mit dem Gesicht nach unten ihre Busenfreundin Miss Sarah Blake, auf einem kühn gestreiften Tuch. Miss Blakes Bräune war absolut perfekt, und ihre Freundin warf ihr mehr als einmal einen neidischen Blick zu.
»Ich bin immer noch so fleckig«, murmelte sie beda u ernd. »Monsieur Poirot – wenn es Ihnen nichts au s macht? Nur unter dem rechten Schulterblatt – ich kann mich dort nicht richtig einreiben.«
Monsieur Poirot kam der Bitte nach und wischte sich anschließend die ölige Hand sorgfältig am Taschentuch ab. Miss Lyall, deren Hauptinteresse im Leben der Be o bachtung ihrer Mitmenschen und dem Klang der eigenen Stimme galt, fuhr zu reden fort.
»Ich hatte Recht mit der Frau – der in dem Chanel-Kostüm. Es ist tatsächlich Valentine Dacres – vielmehr Chantry. Sie ist wirklich wunderschön, nicht wahr? Ich kann verstehen, dass die Männer verrückt nach ihr sind. Sie erwartet das einfach und hat damit schon die halbe Schlacht gewonnen. Die andern Leute, die gestern ank a men, heißen Gold. Er sieht schrecklich gut aus.«
»Auf Hochzeitsreise?«, murmelte Sarah dumpf.
Miss Lyall schüttelte wissend den Kopf.
»O nein – ihre Kleider sind dafür nicht neu genug. Da r an kann man eine Braut sofort erkennen! Finden Sie nicht auch, Monsieur Poirot, dass es das Faszinierendste von der Welt ist, Menschen zu beobachten und etwas über sie in Erfahrung zu bringen?«
»Du beobachtest sie nicht nur, Liebste«, sagte Sarah süß. »Du fragst sie auch ganz schön aus . «
»Ich habe mit den Golds noch gar nicht gesprochen«, sagte Miss Lyall indigniert. »Auf jeden Fall sehe ich nicht ein, warum man an seinen Mitmenschen nicht interessiert sein soll. Der menschliche Charakter ist so faszinierend. Finden Sie nicht auch, Monsieur Poirot?«
Diesmal schwieg sie so lange, dass ihr Nachbar antwo r ten konnte.
Ohne seinen Blick vom blauen Wasser zu wenden, antwortete Monsieur Poirot:
»Pa dépend.«
Pamela war entsetzt.
»O Monsieur Poirot! Ich finde, nichts ist interessanter und so unberechenbar wie der Mensch!«
»Unberechenbar? Nein.«
»Ich finde doch. Gerade dann, wenn man meint, man kennt ihn, tut er etwas völlig Unerwartetes.«
Hercule Poirot schüttelte den Kopf.
»Nein, nein, das ist nicht wahr. Es ist sehr selten, dass jemand etwas tut, das nicht dans son caractère liegt. Mit der Zeit ist es langweilig.«
»Ich bin da gar nicht mit Ihnen einverstanden!«, erklärte Miss Pamela Lyall.
Sie schwieg beinah anderthalb Minuten lang, bevor sie zur nächsten Attacke ansetzte.
»Sobald ich Menschen sehe, frage ich mich, wie sie wohl sind – in welcher Beziehung sie zueinander stehen, was sie denken und fühlen. Oh, es ist so aufregend.«
»Selten«, entgegnete Hercule Poirot. »Der Mensch wi e derholt sich öfter, als man glaubt. Das Meer hat unen d lich viel mehr Variationen«, fügte er nachdenklich hinzu.
»Glauben Sie, dass die Menschen dazu neigen, gewisse Verhaltensmuster zu wiederholen? Immer wieder die
Weitere Kostenlose Bücher