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Herr aller Dinge - Eschbach, A: Herr aller Dinge

Herr aller Dinge - Eschbach, A: Herr aller Dinge

Titel: Herr aller Dinge - Eschbach, A: Herr aller Dinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Eschbach
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konnte, solange man wollte? Die Moskauer Metro war an sich schon eine Sehenswürdigkeit. Charlotte fuhr die schier endlosen Rolltreppen hinab oder hinauf, bestaunte die verspielten, verzierten, aufwendig geschmückten Wartebereiche, ließ sich mit dem Strom der eilenden, grimmig dreinblickenden, lachenden, diskutierenden, gelangweilten, nachdenklichen Passagiere treiben. Gelegentlich musste sie nach dem Weg fragen, denn die kyrillische Schrift bereitete ihr immer noch Probleme. Sprachen waren für sie eher eine Sache des Klangs, des Gehörs.
    Ab und zu stieg sie an die Oberfläche. Sie wanderte unbekannte Straßen entlang, betrachtete alte, verfallende und neu errichtete Häuser. Sie wurde einen 50-Rubel-Schein an einen Schnorrer in einem fadenscheinigen grau-weiß-melierten Mantel los, bestaunte die Werke eines Straßenmalers, der, nur durch eine schlichte Plastikplane gegen den Regen geschützt, unverdrossen seiner Arbeit nachging, wich einem wütend kläffenden Hund aus, hing ihren Gedanken nach.
    Bei einer dieser Exkursionen ans Tageslicht fing es so unvermittelt an zu schütten, dass ihr nur die Flucht in das nächsteGeschäft blieb. Das Öffnen der Tür betätigte ein schepperndes Glockenspiel, und dann stand sie da, mit nassen Hosenbeinen, und versuchte zu Atem zu kommen, während der Regen gegen die Scheibe prasselte und die Welt draußen verschwimmen ließ. Verwaschene Lichter glitten vorüber: Autos, die sehr, sehr langsam fuhren.
    Sie sah sich um. Es war ein Antiquitätengeschäft. Alte Möbel, Ölgemälde in kolossalen Rahmen, ausgebleichte Spitzendecken, geschliffenes Glas. Bücher. Geschirr aus massivem Silber. Geschichte wehte sie an. Sie spürte Ängste, Trauer, die Not, aus der heraus viele Gegenstände verkauft worden waren.
    Erst nach einer Weile drang ihr ins Bewusstsein, dass weiter hinten im Laden gesprochen wurde. Sie hörte jemanden auf Russisch radebrechen, mit englischem Akzent.
    Sie ging den Stimmen nach. In einem angrenzenden Raum voller Musikinstrumente standen ein älterer, verkniffen dreinblickender Mann – offensichtlich der Inhaber des Ladens – und ein anderer mit wilder Lockenmähne, der ihr den Rücken zukehrte und, so kam es Charlotte auf den ersten Blick vor, den gleichen grau-weiß-melierten Mantel trug wie der Bettler vorhin.
    »Kann ich Ihnen behilflich sein?«, fragte sie auf Englisch.
    Er fuhr herum. Sie sah in ein strahlendes, pausbäckiges Engelsgesicht voller Sommersprossen, in kornblumenblaue Augen. »Bitte?«, fragte der weiche Mund mit den geschwungenen Lippen. »Oh, sprechen Sie etwa Russisch?«
    »Einigermaßen.« Charlotte sah, dass der Mann ein Lexikon in der Hand hielt. »Worum geht es denn?«
    Er deutete auf das klavierähnliche Instrument, vor dem er stand. »Ich versuche ihm klarzumachen, dass ich ein Dokument brauche, das belegt, dass dieses Cembalo tatsächlich 1741 von Christian Zell gebaut wurde. Ich kann es nur kaufen, wenn es ein Original ist.« Er seufzte. »Er fängt immer wieder von dem Klang an und dass er mir auch Noten dazu verkaufen kann, aber das interessiert mich nicht. Und von wegen Klang … Es ist total verstimmt; man müsste es dringend reparieren!«
    Charlotte betrachtete das Cembalo. Es war geformt wie ein Flügel, aber viel kleiner, und es wirkte sehr schlicht, aus einfachem Holz gebaut, dunkelbraun lackiert und mit einem dünnen Strich Goldfarbe verziert.
    Sie legte die Hand darauf. Auf einmal war es wieder ganz leicht. »Es stimmt nicht, was er Ihnen gesagt hat«, erklärte sie. »Das Instrument ist erst um etwa 1960 herum gebaut worden.«
    Er stutzte. »Sind Sie sicher?«
    »Ja. Es war damals schon als Fälschung gedacht.«
    Auf einmal verstand der Antiquitätenhändler Englisch durchaus. Er lief rot an und begann zu schimpfen, dass es nur so eine Art hatte. Charlotte wich zurück. Der junge Mann mit den wilden Locken fasste sie am Arm und sagte: »Kommen Sie, wir gehen!« Damit flüchteten sie hinaus in den strömenden Regen, rannten durch Pfützen und Rinnsale, als sei der Händler immer noch hinter ihnen her, mit einem alten Vorderlader womöglich, und mussten die ganze Zeit lachen.
    »Da vorne an der Ecke ist ein McDonald’s«, meinte der Mann, der Anfang dreißig sein mochte. »Darf ich Sie zu einem schlechten Kaffee einladen?«
    Das Schnellrestaurant war überfüllt; es blieb ihnen nur ein Stehplatz an einer Theke. Der Mann im grau-weiß-melierten Mantel hieß Gary McGray und stammte aus Schottland, aus der Nähe von Aberdeen.

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