Herr aller Dinge - Eschbach, A: Herr aller Dinge
auf Spatzen geschossen?«, fragte Charlotte. »Ich meine – hallo? Atom für Atom? Wie lange dauert so was? Geht das überhaupt?«
»Klar geht das. Sonst würden wir hier nicht sitzen. Die Natur macht das seit Milliarden von Jahren. In einer Zelle laufen jede Menge Produktionsprozesse ab, die einzelne Atome manipulieren. Die DNS ist ein hocheffizienter Datenträger, derInformationen in der Anordnung einzelner Moleküle speichert. Proteinsynthese ist ein nanotechnischer Vorgang. Und so weiter. Darüber brauchen wir nicht zu diskutieren. Gehen tut es ohne Frage.«
»Okay, aber das sind Zellen. Da sind wir wieder im Bereich des Lebendigen. Dorthin wolltest du doch nie.«
»Das will ich auch immer noch nicht.«
Charlotte hatte die Stirn nach wie vor gerunzelt. Sie sah umher, musterte den Raum, die Tische mit den Computern. »Also, soweit ich weiß, bestehen die Dinge, die wir im Alltag so benutzen, aus ziemlich vielen Atomen. Hast du deswegen so wenig Möbel? Weil du sie Atom für Atom zusammenbaust und es hunderttausend Jahre dauert, bis eine Couch fertig ist?« Sie lachte auf. »Tut mir leid, wenn ich so darauf herumreite, aber du solltest dir wirklich eine Couch zulegen.«
Hiroshi musste auch lachen. »Nein, das ist bestimmt nicht der Grund. Und es dauert auch nicht so lange, wenn man es richtig anstellt.«
»Ein Kind herzustellen dauert neun Monate. Und das ist erst mal ziemlich klein.«
»Richtig. Aber Prozesse in lebenden Organismen laufen nie mit maximal möglicher Geschwindigkeit ab. Bei Weitem nicht. Das ist so ähnlich wie bei der Informationsverarbeitung im Gehirn: Da fließen die Impulse nur mit höchstens hundert Metern pro Sekunde. Computer können schneller rechnen, weil sich deren Impulse mit Lichtgeschwindigkeit bewegen.«
»Die Natur hat’s also nicht eilig.«
»Warum sollte sie auch. Sie hat ja buchstäblich alle Zeit der Welt.«
»Okay.« Charlotte sah ihn prüfend an. »Mal angenommen, man macht alles richtig und mit der maximal möglichen Produktionsgeschwindigkeit – wie lange würde es dann dauern, eine Couch herzustellen?«
Hiroshi überlegte, überschlug die Zahl der Atome und die nötigen Replikationsschritte. »Vielleicht eine Sekunde.«
»Eine Sekunde?«
»Bei optimalen Bedingungen«, schränkte Hiroshi ein. »Der begrenzende Faktor ist nicht die Zahl der zu bewegenden Atome, sondern der zur Verfügung stehende Arbeitsraum. Angenommen, einen Würfel aus Stahl mit einer Kantenlänge von einem Zentimeter herzustellen würde eine halbe Sekunde dauern. Dann würde es kaum länger dauern, den kompletten Fußboden einer Halle mit einer ein Zentimeter dicken Schicht Stahl zu bedecken – weil die Elemente überall zugleich arbeiten könnten.«
»Puh!«, machte Charlotte. »Das ist wirklich schnell.«
Hiroshi fiel etwas ein. »Einen Moment«, bat er, sprang auf und eilte in die Küche. Dort war Mrs Steel schon mit den Vorbereitungen für das Mittagessen beschäftigt, schnitt gerade mit taktaktaktak- Bewegungen Zucchini, Tomaten und Zwiebeln in kleine Stücke.
»Wollen Sie der Dame denn nichts anbieten?«, fragte sie streng. »Ich hätte es selber gemacht, aber ins Arbeitszimmer komme ich nicht, das wissen Sie.«
»Deswegen bin ich ja hier. Was haben wir denn?«
Hiroshi kümmerte sich schon lange nicht mehr darum, was es zu essen geben sollte. Anfangs hatte er ab und zu einen Wunsch geäußert, zum Beispiel nach einem Hamburger oder dergleichen, worauf sie ihm jedes Mal einen empörten Vortrag darüber gehalten hatte, wie ungesund eine solche Ernährung sei. Jemand wie er, der sich derart in seine Arbeit vergrabe und so wenig körperlich verausgabe, könne es sich nicht erlauben, sich anders als so gesund wie möglich zu ernähren, mit viel frischem Gemüse aus biologischem Anbau, ohne Zucker und Weißmehl. Schließlich hatte Hiroshi ihr völlig freie Hand gegeben, was die Auswahl der Mahlzeiten anbelangte, und aß ohne Widerrede, was sie ihm vorsetzte.
Bis jetzt hatte es ihm zumindest nicht geschadet.
Mrs Steel öffnete den Kühlschrank. »Ich kann Ihnen einen frischen Fruchtsaft pressen oder einen Tee machen. Wie Sie wollen.«
»Und einfach erst mal nur Wasser?« Soweit er sich erinnerte, machte Charlotte sich nicht viel aus Säften und aus Tee noch weniger. Und nach einer Cola brauchte er Mrs Steel gar nicht erst zu fragen.
Die stämmige Haushälterin spitzte die Lippen, holte eine kleine grüne Flasche aus einem Fach und hielt sie ihm hin. »So was? Naturbelassenes
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