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Herr aller Dinge - Eschbach, A: Herr aller Dinge

Herr aller Dinge - Eschbach, A: Herr aller Dinge

Titel: Herr aller Dinge - Eschbach, A: Herr aller Dinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Eschbach
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sobald sein Projekt genehmigt war, ließ sich verschieben. Die Hausarbeitüber Architekturen verteilter Rechnersysteme konnte er noch heute Abend schreiben.
    »Hast du einen Rucksack?«, wollte Charlotte wissen.
    Was würde das werden? »Ja.«
    »Wanderschuhe?«
    »Ich hab nur Turnschuhe«, bekannte Hiroshi. »Aber die sind ziemlich gut.«
    Sie überlegte einen Moment. »Okay, das sollte auch gehen. Dann treffen wir uns morgen früh um sechs Uhr vor der Statue von John Harvard.«

4
    So früh am Morgen lag der Campus von Harvard noch menschenleer da. Man trat unwillkürlich leise auf, weil es einem vorkam, als hätten auch Studenten hier um diese Zeit noch nichts verloren.
    Hiroshi war früher gekommen als vereinbart, sicherheitshalber. Er sah sich fröstelnd um. Hinter einem der weiß umrahmten Fenster glaubte er, eine Bewegung auszumachen, aber das war vielleicht auch nur die Spiegelung eines vorbeifliegenden Vogels gewesen. Die Gebäude aus roten Ziegeln waren, soweit er das wusste, die Dormitories , die Wohnheime der Studienanfänger. Um diese Zeit schliefen dort wohl alle noch.
    Ein plötzliches Geräusch ließ ihn zusammenzucken. Ein Mann in einem Overall hatte am Fuß eines der Gebäude eine Metalltüre geöffnet und hantierte nun mit allerhand Gartengeräten, unbekümmert um den Lärm, den er dabei veranstaltete.
    Die Statue stand vor der University Hall , einem altehrwürdig aussehenden, kolossalen Gebäude aus weißem Granit. Die Bronzeskulptur zeigte einen Mann, der relativ lässig, ja, beinahe lasziv in einem Sessel lehnte. Auf seinem rechten Oberschenkel ruhte ein aufgeschlagenes Buch, in dem er jedoch nicht las; stattdessen ging sein Blick ins Leere. Er sah erstaunlich jung ausfür jemanden, der eine Universität gestiftet hatte – eigentlich hätte man erwartet, auf das Bildnis eines betagten Gelehrten mit langem Bart zu stoßen. Doch John Harvard, das hatte Hiroshi gestern noch nachgeschlagen, war tatsächlich schon im Alter von dreißig Jahren gestorben, wenige Monate, nachdem er nach Amerika ausgewandert war.
    Und die Spitze des linken Schnallenschuhs glänzte: Weil es angeblich Glück brachte, vor einer Prüfung diesen Schuh zu polieren. Hiroshi trat einen Schritt zurück, betrachtete die Gravur auf der Front des Sockels. John Harvard, Gründer, 1638 stand da.
    »Die Leute, die hier Führungen veranstalten, nennen das ›die Statue der drei Lügen‹«, vernahm er in diesem Moment die Stimme von Charlotte.
    Er fuhr herum. Da stand sie, mit Rucksack und in Wanderausrüstung, wie aus dem Nichts aufgetaucht. Aber wahrscheinlich, überlegte er, hatte das Geklapper, das der Mann im Overall veranstaltete, einfach nur ihre Schritte übertönt.
    »Hallo«, meinte er.
    Sie lächelte schief. Es war immer noch etwas von dem Ärger in ihrem Blick, den er gestern am Telefon gehört hatte. »Erste Lüge«, sagte sie, ohne auf seinen Gruß einzugehen. »John Harvard war nicht der Gründer, sondern nur der erste Stifter – er hat der Schule seine 320 Bände umfassende Bibliothek und die Hälfte seines Vermögens vermacht. Gegründet wurde sie von einem gewissen Nathaniel Eaton, aber nicht 1638 – zweite Lüge –, sondern schon 1636. Und dritte Lüge: John Harvard hat nicht so ausgesehen wie der Mann, den die Statue darstellt. Das war ein Student, der dem Bildhauer Modell gesessen hat.«
    Hiroshi betrachtete sie: Ja, Charlotte war wirklich außergewöhnlich schön. Ihr schwarzes Haar fiel lang und glatt über ihre Schultern, ihre Haut war wie Porzellan, ihr Gesicht ebenmäßig, hatte aber etwas an sich, das verhinderte, dass sie puppenhaft wirkte. Sie war schlank, gut gebaut, strahlte Energie und Lebensfreude aus.
    Aber das war es nicht, was ihn zu ihr hinzog. Es war vielmehr das überwältigende Gefühl, dass etwas sie beide verband, auch wenn Hiroshi nicht hätte sagen können, was. Er hatte nur, als sie sich letzten Samstag wiedergetroffen hatten, plötzlich gewusst, dass er ein ruheloser Wanderer gewesen war, der in diesem Moment nach Hause kam. Und genau dasselbe Gefühl hatte er jetzt wieder.
    Dieses Gefühl zog ihn zu ihr hin – und erschreckte ihn zugleich.
    »Wir haben uns aber nicht getroffen, um über John Harvard zu sprechen?«, fragte er.
    Sie lachte, ein perlendes, wunderbares Lachen. »Nein. Er ist nur ein Beispiel dafür, wie oft wir etwas als Wahrheit ausgeben, von dem wir uns einfach nur wünschen, es wäre so. Und dass wir uns oft von etwas ein Bild machen, von dem wir gar nichts wissen. Es

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