Herr der Daemmerung
»Prüfung« ...
Aber sie blieb tatsächlich cool und bewegte sich nicht, atmete nur langsam und gleichmäßig ein und aus, während Thistle das Mädchen die Treppe hinunterführte. Als sie den Gehsteig erreichten, ließ Jez ihre Harley an.
Sie gab keine Anweisungen. Sie wusste, dass die anderen ihren Plan befolgen würden wie ein Schwarm gut trainierter Entchen. Jez fuhr direkt auf den Gehsteig zu.
Das Kind war nicht dumm. Als es Jez’ Motorrad auf sich zukommen sah, versuchte es wegzulaufen. Der Fehler war, dass es auch Thistle retten wollte. Es versuchte, das kleine blonde Mädchen mit sich zu ziehen, aber Thistle war plötzlich sehr stark, umfasste mit einer kleinen Hand, die wie Stahl war, den Maschendrahtzaun des Spielplatzes und hielt sie beide dort fest.
Jez preschte heran und fasste ihr Opfer geschickt um die Taille. Sie hörte, wie die Motoren der anderen aufheulten, dann wusste sie die Gang in enger Formation hinter ihr. Jez schwang das Kind auf den Motorradsattel, spürte den Aufprall des kleinen Körpers an ihrer Brust und spürte Hände, die sich automatisch an sie klammerten, weil die Kleine nicht das Gleichgewicht verlieren wollte.
Dann schoss sie an einem geparkten Wagen vorbei und flog davon.
Sie wusste, dass Raven nur noch Thistle aufsammelte und dass die anderen alle folgten. Es gab keinen Schrei oder auch nur irgendein Geräusch aus der Sozialsiedlung.
Sie donnerten die Taylor Street entlang. Sie kamen an der Highschool vorbei. Sie hatten keine Probleme bei der Flucht.
»Halt dich an mir fest, oder du wirst runterfallen und dich verletzen!«, brüllte Jez dem Kind vor ihr zu, während sie so schnell in die Kurve ging, dass ihr Knie beinahe über den Boden schleifte.
Sie wollte weit genug vor den anderen bleiben, damit sie reden konnte.
»Bring mich zurück nach Hause!« Die Kleine schrie sie an, aber nicht hysterisch. Sie hatte nicht einmal gekreischt. Jez schaute auf sie hinab.
Und blickte in dunkle, samtig braune Augen. Ernste Augen. Sie wirkten tadelnd und unglücklich - aber nicht verängstigt.
Jez war verblüfft.
Sie hatte Tränen erwartet, panische Angst, Wut. Aber sie hatte das Gefühl, dass dieses Kind nicht einmal brüllen würde, selbst wenn es die einzige Möglichkeit wäre, sich Gehör zu verschaffen.
Vielleicht hätte ich mir mehr Sorgen machen sollen, was sie uns antun könnte. Vielleicht kann sie blaues Feuer heraufbeschwören, um Leute zu töten. Wie kann sie sonst so gefasst sein, wenn sie gerade gekidnappt wurde?
Aber diese braunen Augen - es waren nicht die Augen einer Person, die gleich angreifen würde. Es waren - Jez wusste nicht, was das für Augen waren. Aber sie zerrissen ihr das Herz.
»Hör mal - Iona, richtig? So heißt du doch?«
Das Kind nickte.
»Hör mal, Iona, ich weiß, das alles kommt dir unheimlich und beängstigend vor - dass dich gerade jemand einfach von der Straße gerissen hat. Und ich kann dir jetzt nicht alles erklären. Aber ich verspreche dir, dass dir nichts passiert. Niemand wird dir wehtun - okay?«
»Ich will nach Hause.«
Oh, Kleine, das will ich auch, dachte Jez plötzlich. Sie musste heftig blinzeln. »Ich werde dich nach Hause bringen - oder zumindest an einen sicheren Ort«, fügte sie hinzu, in einem unerwarteten Anfall von Ehrlichkeit. Das Kind hatte etwas an sich, das sie dazu brachte, nicht lügen zu wollen. »Aber zuerst müssen wir dich in das Haus eines Freundes von mir bringen. Doch hör mal, ganz gleich, wie seltsam all das erscheint, ich will, dass du dich an etwas erinnerst. Ich werde nicht zulassen, dass dir etwas zustößt. Okay? Glaubst du mir das?«
»Meine Mom wird Angst haben.«
Jez holte tief Luft und fuhr auf die Schnellstraße. »Ich verspreche, dass ich nicht zulassen werde, dass dir irgendjemand etwas antut«, sagte sie noch einmal. Und das war alles, was sie sagen konnte.
Sie fühlte sich wie ein Zentaur, eine Kreatur, die halb Person und halb stählernes Pferd war und die mit der Geschwindigkeit von sechzig Meilen die Stunde ein menschliches Kind davontrug. Es war sinnlos zu versuchen, auf der Schnellstraße ein Gespräch zu führen, und auch Iona sprach erst wieder, als sie zu Morgeads Wohngebäude hinaufpreschten.
»Ich will nicht da rein gehen«, stellte sie lediglich fest.
»Es ist kein schlimmer Ort«, erwiderte Jez, während sie bremste. »Wir gehen aufs Dach hinauf. Dort gibt es einen kleinen Garten.«
In den ernsten, braunen Augen flackerte ein Anflug von Interesse auf. Vier andere
Weitere Kostenlose Bücher