Herr der Diebe
ihm, bleich wie Gespenster.
»Dein Anrufbeantworter blinkt«, stellte Mosca fest, als sie vor dem Schreibtisch standen.
»Den werf ich irgendwann vom Balkon«, brummte Victor und drückte auf den Wiedergabeknopf. Prosper erkannte die Stimme sofort, die aus dem kleinen Lautsprecher drang. Er hätte Esthers Stimme sogar erkannt, wenn sie auf dem Bahnhof von Venedig plötzlich die Zugabfahrtszeiten durchgesagt hätte. »Signor Getz, hier spricht Esther Hartlieb. Ihr Auftrag hat sich heute Nacht erledigt. Durch den Hinweis einer alten Dame, die unser Plakat gesehen hat, konnten wir meinen Neffen endlich finden. Er hat sich offenbar seit Wochen in einem heruntergekommenen Kino versteckt, zusammen mit einem Mädchen, das seinen Namen nicht verraten will. Die Polizei hat sich ihrer angenommen. Was Bo betrifft, so ist er natürlich noch verstört und etwas mager. Über den Verbleib seines Bruders wollte er bisher nichts sagen. Wer weiß, vielleicht ist er genauso wütend auf ihn wie ich. Die Honorarfrage klären wir in den nächsten Tagen, wir sind noch bis Anfang nächster Woche im Sandwirth. Melden Sie Ihren Besuch bitte an. Auf Wiederhören.« Prosper stand so reglos da, als wäre er zu Stein geworden. Victor wusste nicht, was er sagen sollte. Er hätte zu gern etwas gesagt, irgendetwas, was den Jungen wieder etwas lebendiger aussehen lassen würde. Aber ihm fiel nichts ein. Kein Wort. »Was für eine alte Dame?«, fragte Riccio mit kläglicher Stimme. »Taubendreck, wer kann das gewesen sein?«
»Prospers Tante lässt seit gestern in der ganzen Stadt Plakate aufhängen«, sagte Victor. »Mit einem Foto von Prosper und Bo.« Wer das Foto gemacht hatte, erzählte er vorsichtshalber nicht. »Von einer saftigen Belohnung sollte darauf auch die Rede sein. Habt ihr noch keins gesehen?« Bestürzt schüttelten die Jungen die Köpfe. »Nun, die alte Dame offenbar schon«, sagte Victor. »Vielleicht wohnt sie in der Nähe des Kinos und hat irgendwann beobachtet, wie ihr hinein-oder hinausgeschlichen seid. Vielleicht dachte sie sogar, sie tut etwas Gutes, wenn sie die Tante der armen Jungen benachrichtigt.«
Prosper stand da und blickte auf Victors Balkon hinaus. Es war inzwischen hell geworden, aber der Himmel war grau und wolkenverhangen. »Esther wird Bo nie wieder rausrücken«, murmelte Prosper. »Nie wieder.« Voll Verzweiflung blickte er Victor an. »Wo ist das Sandwirth ?«
Victor war nicht sicher, ob er es ihm sagen sollte, doch Mosca nahm ihm die Entscheidung ab. »An der Riva degli Schiavoni«, antwortete er. »Aber was willst du da? Komm lieber mit uns ins Versteck. Wir müssen unsere Sachen zusammenpacken, bevor die Polizei dort noch mal auftaucht. Victor kann ja in der Zeit vielleicht rauskriegen, wohin die Carabinieri Wespe gebracht haben, oder?« Fragend sah er Victor an.
Der nickte. »Sicher, da genügen ein paar Anrufe. Sagt mir nur ihren richtigen Namen.«
Riccio machte ein bestürztes Gesicht. »Den wissen wir nicht.«
»In ein paar von ihren Büchern steht ein Name«, sagte Prosper mit tonloser Stimme. »Caterina Grimani. Aber was nützt uns das? Bestimmt haben sie Wespe in ein Heim gebracht, und da kriegt ihr sie sowieso nicht wieder raus. Sie ist weg, genau wie Bo.«
»Prosper…« Victor stand auf und stützte sich auf seinen Schreibtisch. »Komm, das ist nicht das Ende der Welt…«
»Ist es doch«, sagte Prosper und öffnete die Tür. »Ich muss jetzt erst mal allein sein.«
»Warte doch!« Riccio machte hilflos einen Schritt auf ihn zu. »Wir könnten unseren Kram erst mal zu Ida Spavento bringen. Sie hat uns ihre Hilfe angeboten, hast du das schon vergessen? Gut, sie hat wahrscheinlich nicht damit gerechnet, dass wir schon heute auftauchen, aber versuchen können wir es doch.«
»Versucht es«, sagte Prosper. »Mir ist alles egal.« Dann zog er Victors Wohnungstür hinter sich zu.
Hilfe suchend drehten Mosca und Riccio sich zu Victor um. »Was jetzt?«, fragte Riccio.
Aber Victor schüttelte nur den Kopf und starrte den Anrufbeantworter an.
Idas Haushälterin öffnete, als Riccio an der Vordertür klingelte. Sein struppiger Kopf war kaum zu sehen hinter dem großen Karton, den er trug.
»Kenne ich dich nicht?«, brummte die dicke Haushälterin und schob argwöhnisch ihre Brille hoch. »Stimmt.« Riccio schenkte ihr sein strahlendstes Lächeln. »Aber jetzt will ich nicht zu Ihnen, sondern zu Ida Spavento.«
»So, so.« Die Haushälterin verschränkte die Arme vor dem gewaltigen Busen. »Das heißt
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