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Herr der Finsternis

Herr der Finsternis

Titel: Herr der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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erschöpfte meinen Atem nicht mehr in lautem Wehklagen über mein Schicksal oder die Denunziation meiner Feinde, noch brütete ich lang und schwer über eine grausame Rache. Stattdessen ließ ich mich schnell in einen veränderten Bewußtseinszustand gleiten, eine Art mystische Trance, während der meine Seele mitunter stundenlang diesen abscheulichen Ort verließ und den hellen Bereich meiner Vorstellungen durchstreifte. Hätte ich diese Eigenschaft nicht besessen, so hätte ich bei all meinen vielen Gefangenschaften wohl den Verstand verloren.
    Also stellte ich mir vor, ich sei in England, schlenderte durch die schmalen, verwinkelten Gassen Londons und schritte über die süßen grünen Felder von Essex. Nach Plymouth ging ich und nach Dover, dem Ort, der im Sonnenschein so hell strahlt, und ich kniete in der großen Kathedrale von Canterbury nieder und schritt auf den alten Mauern von Chester und reiste im Ochsenkarren nach York und sogar auf einem Botengang für dieses störrische, aufrührerische Volk ins dunkle, stürmische Schottland. Ich beratschlagte mich mit den hohen Herren des Hofes und lernte erfahrene Kartographen kennen, denen ich meine Geschichte von Frankreich erzählte. Ich segelte wieder nach Frankreich und sogar nach Spanien, von dem ich mir vorstellte, es sei nun durch einen Friedensvertrag mit England verbunden. Und ich stellte mir vor, wie ich zu einem liebenden Weib nach Hause kam, das ich Anne Katherine nannte, obwohl meine Vorstellungskraft mich hier im Stich ließ, denn ich konnte noch nicht einmal ein Gesicht für sie herbeirufen und auch keine Charaktereigenschaften. Die Anne Katherine, die ich einmal gekannt hatte, war nur ein Produkt der Einbildung, ein schon lange erwachsen gewordenes Kind, und obwohl ich vorgeben konnte, mit ihr verheiratet zu sein, hatte sie keinen Gehalt mehr für mich.
    Mit solchen Spielen verbrachte ich die Tage und die Nächte. Ich dachte oft über mein Leben nach und auch über die seltsamen Wendungen und Drehungen, die es genommen und die mich in diese portugiesischen Kerker und wieder aus ihnen hinaus gebracht hatten, und über die seltsamen, gewundenen, schattigen Flüsse, über die ich mich wie ein Verzauberter durch ein Reich der nackten Wilden und der Menschenfresser bewegt hatte. Es war, als wäre ich an einem Apriltag im Jahre des Herrn 1589 eingeschlafen und in einen langen Traum gefallen, aus dem es kein Erwachen gab.
    In Träumen kann alles geschehen, und nichts ist ein Anlaß, überrascht zu sein. So gab ich mich nun nach dem Fehlschlag meiner kühnen Flucht von Masanganu dem traumähnlichen Fluß der Ereignisse hin und ließ mich von seiner Strömung tragen, ohne jemals eine weitere Befreiung aus dem Kerker und der Haft zu erwarten und ohne das geringste Erstaunen zu zeigen, als mein Leben eine neuerliche Wandlung erfuhr. Womit ich meine, daß ich mich in eine große Gleichmut gehüllt hatte, aus der nichts meinen ruhigen Pulsschlag heben konnte. Als also Wärter kamen und mir die Gewichte von den Beinen und den eisernen Kragen vom Hals nahmen, stellte ich keine Fragen, denn es war mir völlig einerlei, ob sie mich nun zum Hinrichtungsplatz führten oder an Bord eines Schiffes nach England brachten. Mein Blut floß ruhig. Meine Seele akzeptierte alles gleichermaßen stoisch.
    Und so zogen sie mir meine Lumpen aus und gaben mir grobe, aber saubere Kleidung, wie sie ein gewöhnlicher Bauer tragen mochte, und führten mich auf den Hof des Presidio und in das Herz der Stadt hinaus. Und unter dem Trommelschlag der Mittagshitze marschierte ich zwischen ihnen, ein wenig schwach auf den Beinen, weil ich so lange in eine Zelle gezwängt war, doch die Schultern gehoben, und ich sagte kein einziges Wort, fragte sie niemals, wohin sie mit mir gingen oder welches Schicksal mich erwartete.
    Sie geleiteten mich zu einem Wohnsitz, der wie ein Palast anmutete, mit Einfassungen aus weißem Stein, die in die strahlend blauen und gelben Ziegel portugiesischer Herstellung eingelassen waren, und mit Wachposten, die draußen mit Musketen patrouillierten. Ich glaubte, mich von meinem früheren Leben in São Paulo de Luanda an diesen Palast zu erinnern, war mir aber nicht sicher, und die Wolken klärten sich erst vor meinem Geist auf, als ich den Palast betreten hatte. Da begriff ich, daß es der Wohnsitz von Fernão de Souza und Doña Teresa war, der jedoch im Laufe der Jahre mannigfach umgebaut und viel prächtiger geworden war. Und als ich den Fuß in dieses Haus setzte,

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