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Herr der Finsternis

Herr der Finsternis

Titel: Herr der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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angewandt?«
    »Gaunerei? Wer spricht von Gaunereien? Ich spreche davon, daß das richtige Urteil gefällt wird.«
    »Das ist das gleiche«, erwiderte ich müde.
    »Bei dem Fall, den du beobachtet hast, wußte ich, wem das Schwert gehörte und wer den falschen Anspruch erhoben hat. Wir alle wußten dies. Doch wir müssen das Ergebnis wie eine heilige Entscheidung aussehen lassen. Schau, Andubatil: Es gibt einen besonderen Kniff, diese Muscheln auf der Stirn zu befestigen, eine kleine Handbewegung, und sie bleibt einen Augenblick dort hängen, während die des anderen Mannes hinabfällt. Das habe ich getan: eine kleine Drehung bei dem einen, und keine bei dem, der der Lügner war.«
    »Das habe ich mir gedacht«, sagte ich.
    Ich fragte ihn nicht nach dem Gottesurteil mit dem kochenden Wasser, denn ich glaubte, allein darauf gekommen zu sein, wie dieses zustande gebracht wurde: Denn da man mitunter schon aus bloßer Besorgnis nicht schlucken kann, wird die Schuld dem einen Bittsteller die Kehle zuschnüren, dem anderen, der unschuldig ist, jedoch nicht. Und ich sah keine Möglichkeit, wie der Richter dieses Gottesurteil schon vor der Hand lenken konnte, so daß sich in diesem Fall die Gerechtigkeit der Jaqqas vielleicht als die wahre erwies.
    »Und die vergiftete Palmfrucht?« fragte ich. »Wie wird das bewerkstelligt?«
    Kinguri lachte. »Nun, es ist die Einfachheit selbst. Wenn der Nganga über der Schale seine Gebete spricht, verbirgt er Palmfrüchte in den Händen und bewegt sie sehr schnell und geschickt. Wenn er dem Ankläger die Schale anbietet, sind alle drei Früchte frei von Gift, denn die vergiftete hat der Nganga nun in der Hand. Und wenn er die Schale dem Beklagten reicht, gibt er die vergiftete wieder hinein und tauscht die beiden harmlosen insgeheim gegen vergiftete aus. So wirken alle drei tödlich, und es besteht kein Zweifel über den Ausgang des Urteils.«
    »Ah«, sagte ich. »Die Einfachheit selbst, wie du es sagst.«
    »Fürwahr. Ist es nicht wirklich einfach?«
    »Aber warum flieht derjenige nicht sofort, der sich diesen Urteilen unterziehen muß und weiß, daß das Ergebnis schon vorbestimmt ist?«
    Kinguri schaute besorgt drein und erwiderte mit dunkler Stimme: »Aber sie wissen nicht, was ich dir gesagt habe.«
    »Ah.«
    »Du verstehst, das sind hohe Geheimnisse des Imbe-Jaqqa, die ich dir verraten habe, weil du mein Bruder bist.« Er ergriff mein Handgelenk. »Sie dürfen nicht enthüllt werden, Bruder.«
    »Ich verstehe… Bruder.«
    »Sie dürfen nicht enthüllt werden«, sagte er und verstärkte den Druck seiner Hand um meinen Arm, so daß ich fühlte, wie sich ihre Knochen bewegten, obwohl ich keinen Versuch machte, mich von seinem schmerzenden Griff zu befreien. »Auf keinen Fall, Bruder.«
    »Bruder, das werden sie auch nicht«, sagte ich.
    Und das wurden sie auch nicht, bis zu diesem Augenblick, da jeder Eid, den ich dem Kinguri Jaqqa vielleicht geleistet habe, längst erloschen und durch den Fluß der Zeit und die Wendungen des Schicksals längst aufgehoben ist.
    Nachdem er mich mit solch großen Geheimnissen vertraut gemacht hatte, fürchtete ich erneut um mein Leben, denn ich war der Meinung, daß Kinguri das, was er mir anvertraut hatte, noch mehr bedauern konnte, sobald sich der Wein erst einmal aus seinem Gehirn verflüchtigt hatte. Als ich also zu meiner Schlafmatte ging, hielt ich in dieser Nacht ein Auge und beide Ohren offen. Doch keine dunkle Gestalt schlich sich zu mir, und die nächsten Tage über brachte Kinguri mir nur Herzlichkeit entgegen und verriet mit keiner Geste, daß er mir zürnte.
    Wir hatten die warme Regenzeit, und mehrere Jaqqas erkrankten an Fiebern. Für diese Kranken wurden am anderen Ende des Lagers Hütten aus Weidenruten errichtet, und sie mußten dort wohnen; versorgt wurden sie nicht, man bracht ihnen nur ein wenig zu essen. Sie bekamen auch keine Behandlung, obwohl die Medizinmänner des Stammes zu ihnen gingen und aus der Ferne Gebete sangen. Die Jaqqas sind im allgemeinen sehr freundlich zueinander, solange sie gesund sind, doch die Kranken verabscheuen sie, und sie meiden ihre Gesellschaft.
    Einige der Kranken erholten sich, andere nicht. Für diese gab es ein Begräbnis. Um einen Toten zu begraben, hoben sie ein großes Loch in der Erde aus und setzten ihn hinein. Man hatte den Kopf des Toten mit Perlen und Spangen frisch geschmückt und seinen Körper gewaschen und mit süßen Pulvern eingerieben. Sie legten ihm seine besten Roben an, und zwei

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