Herr der Moore
her. »Ich weiß es nicht. Es verletzte und infizierte ihn irgendwie.«
Ihre Unterlippe bebte, und Tränen füllten ihre Augen. »Mit was?«
Er schenkte ihr ein verkrampftes Grinsen. »Das weiß ich auch nicht, aber was auch immer es ist, er wird stark genug sein, um es zu überwinden. Danach wird er Ihnen alle Antworten geben, mit denen ich nicht aufwarten kann.«
»Dann ist es egal«, entgegnete sie im schwankenden Tonfall. »Falls … wenn er wieder zu sich kommt, werde ich mich nicht mehr um die Ursache scheren.«
Eine unangenehme Stille senkte sich über sie und lastete eine Weile auf den beiden, bis Grady sein bestes Lächeln aufsetzte und sagte: »Möchten Sie dem Herbsttanz heute Abend immer noch beiwohnen?«
Sie nickte. »Ich muss, denn andernfalls werde ich wahnsinnig vor lauter Grübeln.«
»Dann sollten wir uns sputen und in Schale werfen. Ich möchte Mrs. Fletchers Zorn nicht auf mich ziehen, nur weil ich Ihren Redefluss nicht unterbunden habe.«
Damit erhob er sich, nahm sie bei den Händen und zog sie behutsam hoch.
»Entschuldigung.« Sie schluchzte und legte die Arme um seinen Hals. »Ich würde Sie nie hinauswerfen. Sie und Mrs. Fletcher sind alles, was ich noch habe.«
Er streichelte ihren Kopf und trocknete die Tränen. »Und das wird auch so bleiben.«
Obwohl sie nickte, sah er, dass sie nicht überzeugt war. Dann entzog sie sich, und er verstand, weshalb sie sein Versprechen nicht für voll nehmen wollte. Schließlich hatte sie ihre Mutter verloren, und jetzt fiel ihr Vater offensichtlich einer unergründlichen Krankheit anheim. Versprechen bedeuteten nichts mehr – nicht seit sie erkannt hatte, wie vergänglich das Leben war.
»Ich mache mich besser frisch.« Sie wich seinem Blick aus, damit er den neuerlichen Tränensturz nicht sah. Als sie zur Tür ging, fragte sich Grady, wie schnell die Zeit vergangen sei, nun, da sie sich wie eine junge Dame benahm. Er war ständig zugegen gewesen und hatte ihr beim Aufwachsen zugeschaut, doch irgendwie beschlich ihn das Gefühl, etwas verpasst zu haben, als hätte sie sich wie ein Insekt verpuppt, um zum hübschen Schmetterling heranzureifen. Er zog die Mundwinkel nach oben, als sie sich zu ihm umdrehte. Dunkle Wolken der Sorge erstickten seinen Überschwang letztlich. Vielleicht lag es an des Masters Erwachen, Halloween und dem damit verbundenen Aberglauben oder der Feststellung, dass Kate ihren sicheren Hort bald verlassen und der Welt ins Auge blicken musste. In jedem Fall aber verengte eine üble Vorahnung seine Brust, als zöge ein Sturm auf – ein vehementes Unwetter, das sie alle vernichten mochte.
***
Dieses ungezogene Ding hat Nerven , dachte Campbell, als er seine Nase am Ärmel abwischte und den glänzenden Striemen betrachtete, der auf dem Stoff zurückblieb. Die morgendliche Kälte setzte seinen Knochen zu, obwohl er den Mantel so fest um sich gezogen hatte, dass er bei einem einzigen Niesen zerrissen wäre. Dennoch schlotterte er unbeherrscht und klapperte mit den Zähnen. Ihm war, als zeige der Winter Krallen und kratze seine Lippen auf. Wie unbehaglich es tatsächlich draußen war, sollte er erst bemerken, sobald er das warme Fox & Mare betrat. Er wollte die Finger nicht aus den Taschen ziehen, weil er keine Handschuhe trug, doch da sein Flachmann in einer steckte, muss durfte er sich te er dieses Opfer bringen. So spannte er die Schultern an, als er neben der Steinwand stehen blieb, die die Straße vom brodelnden Sumpf trennte, und nahm den Whiskey heraus. Nachdem er ihn rasch aufgeschraubt hatte, genehmigte er sich einen kräftigen Schluck und fühlte gleich, wie sich die Hitze in seinem Magen ausbreitete. Ehe er weiterging, rülpste er genüsslich, steckte das Fläschchen wieder ein und behielt die Hände gleich in den Taschen.
Verwöhnter Balg.
Er hatte diese Göre aus dem Schoß ihrer Mutter geborgen, sie trockengewischt und ihr auf den Rücken geklopft, damit sie den ersten Atemzug ihres Lebens nahm. Während er sich jetzt ihrer Schmähungen von zuvor entsann, wünschte er sich, Einfaltspinsel Grady hätte ihm erlaubt, zum zweiten Mal Hand an sie zu legen. Wie ihre Augen und Halsadern vor Wut hervorgetreten waren, als handle es sich um Stricke unter einem Stofftuch, oder der hasserfüllt verzogene Mund. Alles bloß deshalb, weil er entschieden hatte, ihr die Wahrheit zu sagen, statt ihr etwas Angenehmeres als Trauer in Aussicht zu stellen. Er kam nicht über ihre Frechheit hinweg. Hätte er in diesem Alter derart
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