Herr der Moore
heftiger als gerade eben.
»Wir werden klatschnass ankommen«, prophezeite Grady, »und morgen früh alle mit einer Erkältung im Bett bleiben müssen.«
Neil seufzte. »Würden wir nicht darüber diskutieren, hätten wir schon die halbe Strecke zurückgelegt.«
»Schon gut, schon gut. Dann Abmarsch.«
»Knöpfen Sie Ihre Mäntel sorgfältig zu«, erinnerte die Tagelöhnerin, »und nehmen Sie die Beine in die Hand.«
»Werden wir«, versprachen Kate und Neil einhellig und traten in den Regen, wobei ihre Laternen nur kurze Kegel aus der Schwärze schnitten.
Grady zögerte, da tippte ihm Mrs. Fletcher an die Schulter. »Geht es Ihnen gut?«
Er nickte. »Aber ja doch. Ich habe halt meine Bedenken.«
»Nun, wenn die sich nicht verflüchtigen, sehen Sie zu, dass Sie zurückkommen.«
»Die zwei würden aus allen Wolken fallen.«
»Sie sind ein erwachsener Mann. Die Entscheidung liegt bei Ihnen, und wenn sie an etwas zweifeln, müssen die Kinder es hinnehmen, ob es ihnen passt oder nicht.«
»Was solcherlei betrifft, legen Sie wohl größeren Mut an den Tag als ich«, gab er zu. »Es gibt wenig Schlimmeres, als den Zorn schmollender Heranwachsender.« Er ächzte. »Im Übrigen haben die beiden recht. Sie finden selten die Gelegenheit, sich dem alltäglichen Einerlei zu entziehen. Ich käme mir schlecht vor, müsste ich es ihnen verleiden und gleichzeitig in ihre Augen schauen.«
»Sie sind zu zart besaitet.« Mrs. Fletcher hängte den oberen Knopf seines Mantels ein. »Jetzt auf mit Ihnen, oder Sie finden sie nicht mehr im Dunkeln.«
Er nickte und warf ihr einen letzten Blick zu, indem er sich umdrehte. »Behalten Sie den Master im Auge.«
»Werde ich.«
»Gut. Tun Sie mir noch einen Gefallen?«
»Schießen Sie los.«
»Wenn wir zurückkommen, hätte ich gern eine Tasse von dem Tee, der die Toten auferstehen lässt. Wahrscheinlich werde ich ihn brauchen.«
»Allein schon, weil Sie es mit diesen beiden Satansbraten aufnehmen, koche ich eine ganze Kanne und spendiere Kuchen obendrein. Vergessen Sie nicht, in der Taverne nach unserem ewig durstigen Doktor zu schauen.«
»In Ordnung.« Grady winkte zum Abschied und verließ den trockenen Eingangsbereich. Der Regen trommelte wie Finger auf seinem Mantel. So zügig, wie er es mit dem schweren Sack konnte, folgte er den zusehends kleiner werdenden Laternen, deren gedämpftes Licht den Augen eines Nachttiers glichen, das seiner Ankunft harrte.
***
Mrs. Fletcher blieb stehen, bis auch Gradys Lampe verschwunden war. Dann schloss sie die Tür und ging in die Küche. Einen Obstkuchen hatte sie bereits zuvor in den Ofen geschoben, und dessen appetitlicher Duft ließ ihr schon jetzt das Wasser im Mund zusammenlaufen. Sie freute sich darauf, selbst davon zu kosten, sobald Grady und seine Schützlinge zurückkamen.
Kinder .
Sie seufzte. Kate und besonders Neil wurden schon ungehalten, wenn man das Wort bloß in den Mund nahm, und ehrlich gesagt konnte sie es ihnen nicht verübeln. Kate war mittlerweile sechzehn und Neil ein Jahr jünger. Von Kindern konnte kaum mehr die Rede sein, und der Gedanke betrübte die alte Frau auf ähnliche Weise, wie sie sich beim Flüggewerden ihrer eigenen Kinder gegrämt hatte. Nach dem Tod ihres Jüngsten waren ihr die übrigen wohl noch inniger ans Herz gewachsen. Bald musste sie Kate und Neil Lebewohl sagen. Die bloße Vorstellung versetzte ihrem Herzen einen Stich, und manchmal glaubte sie, ihre Bestimmung darin gefunden zu haben, allen anderen beim Aufbruch zuzusehen, beizustehen und grünes Leben auf die unübersichtliche Welt vorzubereiten. Dabei war es stets unabwendbar, dass sie einsam und mit gebrochener Seele auf der Strecke blieb.
Trotzdem schien es ihre Aufgabe zu sein, also hatte sie gelernt, damit umzugehen, egal wie herzzerreißend es sich von Fall zu Fall gestaltete. Sie nahm stets die weibliche Führungsrolle ein und verstand sich, obwohl sie seit jeher nur als Tagelöhnerin im Hause Mansfield arbeitete, vor allem als Mutter für Neil und Kate. Neils leibliche Mutter war bei der Geburt gestorben, und Mrs. Fletcher hatte seit jenem furchtbaren Tag für die Kinder gesorgt, immerzu nach dem Rechten gesehen und Wünsche erfüllt – so natürlich, als habe sie die beiden selbst zur Welt gebracht. Die ganze Zeit über hatte sie jedoch gewusst, dass die Geschwister sie, sobald sie alt genug waren und ihrer Wege gingen, nur als liebevolle, alte Haushälterin in Erinnerung behalten würden.
Rasch nahm sie ein Glas zur Hand
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