Herr der Nacht
Zorayas’ endgültiger Gleichgültigkeit erführe. Aber der hochgeachtete Weise blinzelte bloß mit seinen nichtssagenden, stolzen Augen und sagte: »Jedermann stirbt früher oder später. Ergib dich in dein Schicksal. Du mußt die Last und das Grab auf dich nehmen. Mein Preis für diesen Rat ist ein Silberstück.«
»Den einzigen Preis, den du erhalten wirst, ist meine Faust auf deine Augen«, sagte Mirrasch, »und du kannst deinen Rat nehmen und ihn dir aufs Brot schmieren«, und er ging statt dessen zu einem Tempel und erzählte den Priestern seine Geschichte. Sie hörten feierlich zu, aber als er zu Ende war, kniffen sie nur ihre harten, gierigen Augen zusammen und sagten: »Bring uns ein Goldstück, und wir werden für deinen Bruder zu unserem Gott beten.«
»Ich habe kein Gold bei mir«, sagte Mirrasch, »und wenn ihr nicht ohne Gold beten wollt, so könnt ihr euren Gott gernhaben, und er euch.« Und er ging davon.
Er lief in den Straßen umher, bis der Abend dämmerte. Dann setzte er sich vor lauter Müdigkeit vor die Tür einer schäbigen, kleinen Taverne.
Als er dort saß, tanzten die Sterne am Himmel hervor wie blaue Feuerblumen, und eine dünne Mondsichel erschien, und kurz darauf kam ein Mann mit einer roten Laterne die Straße heruntergeschlurft.
Der Mann hielt vor dem Gasthaus, begann seine Laterne zu schwingen und rief nach Kunden. Er war zwar vermummt, aber eindeutig als alter Geschichtenerzähler zu erkennen, und sein Preis war ein schwarzer Pfennig.
Niemand kam aus dem Gasthaus zu ihm heraus, und er schickte sich an, wieder zu gehen, als Mirrasch ihn festhielt und ihm ein Geldstück gab.
»Du bist der erste in der Stadt, der keine Diamanten oder Silber oder Gold von mir haben will«, sagte Mirrasch, »und deine Ware sind Träume, an denen ich bisher niemals Bedarf hatte. Aber jetzt könnte ich sicherlich einen Traum gebrauchen, eine Erzählung, in der alles glücklich ausgeht, oder zumindest gerecht. Hast du solch eine?«
Der Geschichtenerzähler setzte sich nieder, stellte seine Laterne zwischen sich und Mirrasch, öffnete den Deckel und warf eine Prise Weihrauch hinein. Er klopfte mit seinem knochigen Finger an sein bärtiges Kinn, das im Schatten lag.
»Ich werde dir die Geschichte erzählen«, sagte er, »von Taki, dem Drin, und der Schlange.«
Vom angenehmen Weihrauchduft, der Wärme der Lampe und der Anwesenheit des alten Mannes eingelullt, lehnte Mirrasch seinen müden Rücken gegen die Wirtshauswand und hörte zu.
»Drunten in der Unterwelt«, hub der Geschichtenerzähler an, »wo die Sonne und der Mond niemals scheinen und es dennoch immer taghell ist, lebte ein kleiner Drin in einem Haus, das in den Felsen gehauen war. Sein Name war Taki, und er war sehr häßlich, wie es tatsächlich der Stolz aller Drin ist. Er war ein Künstler, der juwelenbesetzte Bilder anfertigte, die er manchmal den Vazdru-Prinzen gab; aber meistens behielt er sie in seinem Haus, wo er sie anschauen und mit ihnen sprechen konnte. Es ist eine bekannte Tatsache, daß es keine weiblichen Dämonen von der Art der Drin gibt. Die Drin sind die Ausgeburt von Steinen und den Launen der Dämonenherrscher. Manchmal willigt eine schöne Eschva-Dämonin ein, sich zu einem Drin zu legen, im Austausch für eine Halskette oder einen Ring, den er gefertigt hat, oder eine Menschenfrau, die selbst häßlich ist. Aber im allgemeinen üben die Drin ihre Liebe mit den Reptilien und Insekten der Unterwelt aus. Taki jedoch bevorzugte die Gesellschaft seiner Bilder, denn er liebte das Glitzern und Glimmern von Edelsteinen und feinen Emaillearbeiten über alles.
Dann, eines Tages, als Taki durch den Wald aus Silberbäumen spazierte, der nördlich von der Dämonenstadt Druhim Vanaschta liegt, sah er eine Schlange, die sich in der sonnenlosen Luft auf einem mit Kristallmohnblumen bewachsenen Hügel sonnte. Diese Schlange war derart, wie er noch keine andere gesehen hatte. Nicht kriechend und düster, sondern schleichend und honigsüß, und ihre Haut war wie die wunderbaren Schichten einer Kamee, jetzt achatschwarz, dann smaragdgrün, nun von rauchig glänzender Perlfarbe, und ihre Augen waren wie zwei Topase, und ihre Zunge stieß wie ein funkelndes Schwert aus der roten Samtscheide ihres Mundes. Taki starrte voll Bewunderung auf dieses neue Glänzen und Glimmern; von einem Wackeln in seinen Knien und dem heftigen Schlagen seines Herzens und einer Trockenheit in seinem Mund wußte er, daß er sie liebte. ›Wunderschöne
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