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Herr der Nacht

Herr der Nacht

Titel: Herr der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanith Lee
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Fangzähnen bis zum Schwanz. Sie vergaß alles andere und streckte sich empor und umwand das Bild mit ihrem Emailleleib, und sie schmeichelte ihm und summte in Liebeslauten. Natürlich fühlte das Bild sich bei der Berührung ebenso kalt an wie sie selbst, und sie war vollkommen davon überzeugt, daß es ihr Ebenbild sei, ihre Schwester und auserwählte Geliebte. Aber das Bild reagierte natürlich nicht. In einem Anfall von frustrierter Wut schlug die Schlange mit dem Schwanz, und das Bild begann zu wackeln. Und im nächsten Augenblick war es klatschend auf den Rücken der Schlange gefallen und quetschte sie zu Tode.
    Die drei Mäuse, die so mit Perlen und Peridoten vollgestopft waren, daß ihre Bäuche den Boden streiften, schleppten sich nach draußen, aber auf ihrem Weg trafen sie auf einen Raben, der sie tüchtig ins Verhör nahm. Der Rabe rief sofort seine Freunde zu einem Schlangenschmaus in Takis Haus zusammen, womit er sich einen Ruf als hervorrragender Gastgeber erwarb, der noch lange an ihm haftete.
    Was Taki angeht, so machte er in dem Keller die Bekanntschaft eines Tausendfüßlers, eines wilden, jungen Dings mit einigen interessanten Ansichten über Beine. Er kam aus seiner Abgeschiedenheit im wesentlichen wiederhergestellt hervor und fegte die fremdartigen, weißen Knochen mit einer verwirrten Vergeßlichkeit aus dem Haus und stellte das umgefallene Bildnis in einen Schrank. Er erinnerte sich nur gelegentlich an die Schlange. Die Raben dagegen rühmen ihre Saftigkeit und Zartheit bis zum heutigen Tag, wenn sie sich auf den Schlachtfeldern der Menschen niederlassen.«
    Nachdem der Geschichtenerzähler geendet hatte, fügte er noch hinzu: »Vielleicht keine fröhliche Geschichte, aber zumindest eine gerechte. Du solltest vielleicht auf deinem langen Nachhauseweg ein wenig darüber nachdenken.«
    Mirrasch ergriff den Ärmel des Geschichtenerzählers und fragte ihn, wer er sei.
    »Einst ein reicher Mann«, sagte der Geschichtenerzähler, »aber meine beiden Söhne gaben all meine Reichtümer einer schönen Schlange. Nun erwarte ich, daß einer dieser Söhne mich auf meinem Weg durch die dichten Nebel begleiten muß. Der andere ist aus härterem Metall. Aber er soll sich an meine Geschichte erinnern, wenn er den Diamanten wieder in das Tor einsetzt.«
    Der alte Mann drehte sich um und war die Straße hinaufgegangen, bevor Mirrasch sich noch sammeln konnte. Um sich zu vergewissern, rannte er los, um ihm nachzugehen, aber als er an die Ecke kam, konnte er ihn nirgends sehen, obwohl der Weg geradeaus ging und die Wände der Gasse ohne Nischen waren, und er konnte auch keinen Schimmer von der Lampe entdecken.
    Kann es mein toter Vater gewesen sein, der gekommen ist, um mir zu raten und mich zu warnen? fragte er sich.
    Und es schien ihm, als ob er in der Ferne, wo die Straße abbog, im Schein der Lampe zwei Gestalten gesehen hätte, eine alte und eine junge …
    *
    Einige Tage später, in der Abenddämmerung, traf Mirrasch einen Diener vor dem Palast, der ihm erzählte, daß Jurim tot sei. Er hatte vor dem Jaspis-Gitter im Turm gelegen und nach seinem Bruder Ausschau gehalten, als ein schwarzer Schatten sich ins Fenster gedrängt und einen einzelnen Diamanten vor seine Füße hatte fallen lassen. Und der Schatten hatte gerufen: »Meine Herrin, Zorayas, ist großzügig. Da du sie niemals wiedersehen wirst, sendet sie dir einen Teil des Geschenks zurück: kauf dir davon einen Bauernhof und werde fett.«
    Und als Jurim diese Worte vernommen hatte, erhob er sich, als ob er wieder seine alte Stärke besäße, ging in den Saal, nahm seines Vaters Schwert von der Wand und stürzte sich hinein.
    Er hatte nicht weit zu gehen, nur ein kleines Stück von der Mauer zum Grab am Fluß. Mirrasch weinte nicht an der frisch aufgeworfenen Erde und dem armseligen Grabstein, obwohl in den Tagen ihrer Reichtümer jeder Prinz ein aus Marmor gehauenes und mit Gold und kostbaren Edelsteinen ausgelegtes Grabmal gehabt hätte. Mirrasch kniete davor nieder. »O mein Bruder«, sagte er, »o mein Bruder Jurim.«
    Als die Nacht ihren schwarzen Umhang den Flammen der aufgehenden Sonne opferte und der Tag kam, um ihm die Verlassenheit der Felder am Fluß und sein vernachlässigtes Heim zu zeigen, ging er im Palast ein zweites Mal zu der Bibliothek der Zauberbücher und verschloß die Tür.
6
Liebe in einem Spiegel
    Viele waren auf die eine oder andere Weise für Zorayas gestorben. Einige setzten ihr Leben in gefährlichen Unternehmungen aufs

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