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Herr der Nacht

Herr der Nacht

Titel: Herr der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanith Lee
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herbei.
    »Wenn ich doch nur ein reicher Mann wäre, wenn ich doch nur ein geregeltes Leben führen würde«, sagte er, »so würde ich dieses Mädchen mit Freuden heiraten. Obwohl ihr Geist getrübt ist, ist sie doch lieblicher als eine Lotusblüte.«
    »Verschwinde!« sagte die Dienerin, aber sie meinte es nicht ernst. Bei all seinem schelmischen Gewerbe war der Sänger selbst kein Schelm, sondern sanft und liebenswert. Alsbald saßen sie in der Vorhalle des Tempels und unterhielten sich, während Schesael die Wolken, die blühenden Bäume und das Meer anstarrte.
    Der Sänger erzählte seine Abenteuer. Wie er in armen Schenken und auf geschäftigen Märkten gesungen hatte. Von den Räubern, die ihn bedrängt hatten, ihn dann aber im Austausch für ein Lied oder zwei laufen ließen, als sie sahen, daß sie nach Kultur hungerten und er nahezu ohne einen Pfennig war; von den Wundern einer Stadt, wo die reicheren Straßen mit Jadefliesen gepflastert waren, und von einer anderen Stadt an einem See, wo abgerichtete Vögel alle Arten von Geräuschen nachahmen konnten – das Bellen von Hunden, das Brüllen von Kühen und das Läuten von Glocken – und konnten keinen Ton singen. Zuletzt erzählte er ihr davon, wie er ein Lied über die traurige Schönheit Schesaels gemacht hatte (die Frau schalt ihn deswegen, während ihr Gesicht gleichzeitig Freude ausdrückte) und es im Kriegslager eines Königs vorgetragen hatte. »Und dann«, führte er aus, »stürzte ein junger Verrückter aus einem Zelt, entriß mir meine kleine Harfe und zerfetzte die Saiten. Was für ein merkwürdiger Vorfall, könntest du sagen«, sagte der Sänger. »Aber es kam noch schlimmer, denn ich hatte eine neue Harfe anzufertigen. Als ich die Saiten von der alten Harfe löste, sah ich, daß ein einzelnes Haar vom Kopf des Verrückten sich mit der siebten Saite verwickelt hatte – ein Haar von zartem Aschblond, nahezu die gleiche Farbe wie die Saite selbst. Soviel ich auch versuchte, ich konnte das kräftige Haar nicht von der siebten Harfensaite abbekommen. Und nun, hör zu!« Und der Sänger nahm das Instrument aus seinem Packen und zupfte an allen Saiten, eine nach der anderen. Sechs davon hatten einen klaren, süßen Klang, doch die siebte mit dem einzelnen Haar stöhnte .
    Die Dienerin ergriff seinen Arm: »Ach Herrje! Wirf sie weg! Die Harfe ist verhext.«
    »Warte«, flüsterte der Sänger. »Sieh das Mädchen!«
    Schesael hatte sich umgedreht. Ihr Gesicht hatte sich verändert. Gespannt und mit ernster Miene starrte sie auf die Harfe, ihre Augen bewegten sich nicht, ihr Mund stand halb offen. Und plötzlich lachte sie. Nicht das Lachen eines Narren, ein Lachen aus reiner Freude, das nicht zu verwechseln ist. Dann ging sie geradewegs auf den Sänger zu und nahm die Harfe aus seinen Händen, die ihr keinen Widerstand boten. Sie drehte sich wieder um und ging davon, als ob sie zuletzt doch noch den Weg nach Hause gelernt hätte.
    Die Frau war beunruhigt. Der Sänger war neugierig, aufgeregt, doch nicht überrascht. Er hatte halbwegs etwas Derartiges erwartet, war einen Monat lang jeden Tag mit der Absicht zum Tempel gekommen, Schesael und ihre Bewacherin zu treffen, um etwas herauszufinden über eine merkwürdige Zauberei, die er in der Luft gespürt hatte.
    In dieser Nacht stellte Schesael die Harfe neben ihr Bett. Es war das schmale Bett, in dem ihre Mutter, die vom Schicksal unglücklich getroffene Bisuneh, geschlafen hatte. Schesael rührte nicht an den Saiten der Harfe, aber sie schaute sie an, bis ihr die Augen zufielen.
    Ihr ganzes Dasein war wie ein Traum gewesen, ihre Träume waren manchmal klarer als ihr Dasein. Nun träumte sie mit einer lebhaften Deutlichkeit. Sie wurde zu jemand anderem.
    Sie war ein Hirtenjunge, sie hatte einen Wolf getötet, nein, es war ein Drache! Sie war der Kämpe eines Königs, sie erschlug Riesen. Sie wurde Dresaem genannt. Sie war ein Jüngling: groß, sonnenverbrannt, schön, mit Augen aus Bronze. Sie war ein Krieger, doch sie floh in die leeren Einöden. Sie lag nahezu tot in der grausamen Mittagshitze. Manchmal brüllte sie und stöhnte und weinte aus einem unerträglichen, untröstlichen Gefühl des Verlustes heraus, das sie nicht verstehen konnte.
    Schesael erwachte mit der Sonne, ihre Wangen waren naß von Tränen, ohne daß sie irgendeinen Kummer verspürte.
    Sie stand auf und zog sich an. Sie lächelte vom Fenster auf den Garten hinunter. Sie pflückte eine Rose und legte sie auf das Knie ihres

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