Herr der Nacht
Großvaters, der in seinem Lehnstuhl schlief, dann eine Chrysantheme, die sie der schlafenden Dienerin aufs Kissen legte.
Schesael kannte ihren Weg, als ob sie ihn von einer Landkarte abgelesen hätte.
Sie schlug ihren Weg ein ohne zu zögern, ohne darüber nachzudenken, denn sie besaß die weibliche Hälfte der Seele, die tiefgründig und für verborgene Dinge empfänglich war.
Der Weg führte sie durch die morgendliche Stadt, durch das hohe Tor, die Landstraße entlang in die weite Welt.
*
Sie kannte ihren Weg instinktiv, aber blind. Sie hatte nicht vorausgesehen oder sich Gedanken darüber gemacht, daß er über drei Länder, ein Gebirge, viele breite Ströme und einen großen See führte. Sie war sich auch nicht der Gefahren oder Notwendigkeiten bewußt. Sie machte sich auf den Weg ohne Vorbereitungen irgendwelcher Art. Sie machte sich auf wie die Metallnadel zum Magneten drängt oder die Flut zum Strand, denn sie hatte niemals menschliche Logik oder Voraussicht besessen. Tiefgründige Schesael. Nur der Ruf ihrer verlorenen Seelenhälfte zog sie vorwärts.
Sie ließ die Stadt und das Meer hinter sich und kam bald auf einen einsamen Pfad. Die Nacht brach herein, und Schesael achtete nicht darauf. Als sie sehr müde war, legte sie sich nieder und schlief auf der nackten Erde und erhob sich beim ersten Strahl der Dämmerung wieder und ging weiter. Mehrere Tage wanderte sie ohne Nahrung; nur ein- oder zweimal hielt sie an, um zu trinken, als ein Bach neben dem Pfad dahinfloß. Eine wachsende Schwäche überkam sie, die ihr kaum ins Bewußtsein drang, aber auf die Dauer konnte sie nicht weitergehen.
Es trug sich zu, daß ein Sklavenhändler diesen Weg gewählt hatte, um die nächste Stadt zu erreichen. Seine Männer fanden sie am Wegesrand liegen und erhoben ein mächtiges Geschrei. Der Sklavenhändler rief sie zurück. Er mochte den Anblick des Mädchens, das eine hervorragende Lustsklavin abgäbe. Er flößte ihr Gemüsesuppe ein und legte sie auf einen der Wagen.
Es war eine Reise, die vier Tage dauerte, und die in die gleiche Richtung ging, die Schesael in jedem Fall hätte einschlagen müssen. Vielleicht weil sie dies spürte, gab sie keinen Laut von sich, noch versuchte sie, ihnen zu entkommen. Wenn sie der Männer, die sie gefangengenommen hatten, überhaupt gewahr wurde, dann nur als eine helfende Kraft, die sie nun ihrem Ziel näherbrachte.
Sie erreichten die Stadt. Der Markt ging in reichere Straßen über, an deren Rändern weiße Villen standen, und jeder vierte Pflasterstein bestand aus grüner Jade. Der Sklavenhändler setzte sie auf eine Bühne. Die Gebote folgten einander in schneller Folge, nahmen aber allmählich ab, als die Käufer das merkwürdige, regungslose Starren des Mädchens bemerkten. Schließlich trat ein junger Adliger vor.
»Dieses Mädchen ist beschränkt und stumm. Das kann doch jeder sehen.« Der Sklavenhändler stritt es ab. »Dann fordere sie auf zu reden«, sagte der Adlige.
Der Sklavenhändler tat es mit lauter Stimme, doch ohne Erfolg. Die Menge der möglichen Käufer begann zu murren und sich zu zerstreuen. Der Händler hob seine Peitsche, aber der junge Adlige fiel ihm in den Arm. »Laß gut sein! Ich habe so viele schwatzhafte Frauen in meinem Haus, ich werde sie kaufen.«
Geld wechselte den Besitzer, und Dokumente wurden unterzeichnet. Der Adlige führte Schesael zu seinem Wagen. Als sie seine Villa erreichten, geleitete er sie hinein und zeigte ihr einen marmornen Raum, der mit rosenfarbenem Samt ausgeschlagen war, und ließ ihr von Sklaven Speisen und Wein bringen.
»Dieses Gemach soll dein sein. Diese Sklaven sollen dir gehören. Ich setze dich frei, du sollst meine Geliebte sein, aber ich möchte dich nicht als mein Eigentum besitzen.« Der Adlige nahm Schesaels Hand. »Ich habe in einem Lied von dir gehört, ein Mädchen mit solchen Haaren und Augen. Aber kann es sein, wie der Sänger sagte, daß du ›halb beseelt‹ bist?« Wie sich herausstellte, hatte der Sänger nicht nur im Kriegslager sein Lied von Schesael gesungen.
Schesael hatte um sich geblickt, und das Bedürfnis fortzugehen hatte sie allmählich immer mehr erregt. Doch als der Adlige diese Worte sprach, sah sie ihn mit einer erschreckenden Tiefgründigkeit an. Der Adlige erkannte, daß er sich inmitten des Geschicks einer anderen Person befand, und diese Aura des Schicksals war so mächtig, daß er ihr nicht widerstehen konnte.
Als sie das Zimmer verließ, hielt er sie nicht zurück, sondern
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