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Herr der Nacht

Herr der Nacht

Titel: Herr der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanith Lee
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begleitete sie. »Du sollst hier nicht weggehen, wie du gekommen bist«, sagte er. »Offensichtlich unternimmst du eine Reise von höchster Notwendigkeit, aber wenn du allein reist, setzt du dich von neuem der Gefahr aus. Komm, ich will dir meinen Wagen und die drei weißen Wallache, die ihn ziehen, und einen Kutscher geben und Brot und etwas zu trinken, auf daß du nicht hungern und dürsten mußt.«
    All dies wurde getan. Als ob er sich im Bann eines Zaubers befände; bedauerte der Adlige nicht den Verlust seiner Münzen, nur den Verlust Schesaels, und sie hielt er nicht zurück. Er beschwor den Kutscher, sie ebenfalls zu beschützen.
    »Welchen Weg muß ich nehmen, Herrin?« fragte der Kutscher.
    Aber der Adlige sagte: »Sie schaut auf die Berge: fahre dorthin. Und komm nicht eher zurück, bevor sie nicht sicher angelangt ist.«
    Der Wagen kam schnell voran. Er raste alte Wege entlang und überquerte das Gebirge in zwei Tagen über den breiten Paß. Aber im Tal dahinter wurde er von Räubern ausgemacht.
    Das scharfe Schwirren eines Bogens erklang. Der Kutscher fiel tot vom Bock, ein Pfeil ragte aus seiner Brust; ein Räuber sprang auf den Wagen, ergriff die Zügel und hielt die Pferde an. Ein anderer griff nach Schesael: »Hier ist ein feiner Schatz!«
    Als nächstes kam der Räuberhauptmann. Er stieß die anderen zur Seite und nahm Schesael auf seine Arme und begutachtete sie. Schließlich sagte er: »Das ist das Hexenmädchen, von dem der Sänger gesungen hat«, und er setzte sie behutsam zu Boden. Sofort drehte sie sich um und begann davonzugehen, ließ den Wagen, den toten Kutscher und die sprachlosen Räuber hinter sich zurück. Aus einem Aberglauben heraus folgten sie ihr nicht. Sie hatten einen Räuber-Gott, den sie in einer Höhle anbeteten. Ein Leitsatz seines Glaubensbekenntnisses besagte: ›Für je fünfzig Reisende, die beraubt und erschlagen wurden, laß einen laufen. Die Götter schätzen in nichts das Übermaß.‹
    Schesael kam an einen breiten, reißenden Strom. Der Fährmann hielt sie am Ufer fest.
    »Bei meinem Leben, Ihr könnt nicht auf dem Wasser laufen, junge Dame. Ich muß Euch übersetzen, und Ihr müßt mich bezahlen.« Aber als er in ihre Augen blickte, sagte der Fährmann: »Ach, Ihr seid die Jungfer, von der der Sänger gesungen hat. Ihr werdet umsonst übergesetzt.«
    Der nächste Fluß hatte eine Brücke. Am Wegesrand wuchsen jetzt Obstbäume und Beeren, die das wandernde Mädchen aufrecht hielten, denn sie pflückte sie geistesabwesend, wie man sie gelehrt hatte, die Feigen im Garten ihres Großvaters zu pflücken.
    Schesael durchquerte fünf Dörfer ungesehen. Im sechsten kam eine Frau gelaufen und brachte ihr einen Laib Brot: »Du bist das Mädchen aus dem Lied. Glück sei mit dir bei deiner Suche, was immer es auch sein mag, denn sicherlich bist du einem Zauber verfallen.«
    Sie war über Berge und Gewässer ins dritte Land gelangt. Sie ging eine Straße entlang und hätte, würde sie aufgeschaut haben, in der Ferne die königliche Residenz glänzen sehen können und dahinter, sieben Meilen weiter, den Berg mit der Schneekuppe, wo der Drache viele Menschen gefressen hatte und von Dresaems Hand umkam.
    Schließlich betrat Schesael eine Stadt am Ufer eines riesigen Sees. Am Kai, neben dem seidigen Wasser, spazierte eine alte Dame mit ihren Dienern auf und ab und führte an einer goldenen Leine einen grünen Vogel, der ab und zu wild bellte.
    »Ich sehe ein Kind mit wunderschönen Haaren«, sagte die alte Dame. »Im nächsten Augenblick wird es in den See fallen. Geh, einer von euch, und bringe es mir her!«
    Schesael wurde zu der alten Dame mit dem bellenden Vogel geführt.
    »Ja, wie ich mir dachte«, sagte die alte Dame. »Sie ist das Mädchen aus dem Lied des Sängers. Und wahrhaftig, ich glaube, daß sie nur halb beseelt ist, wie er sagte. Kann es sein, daß sie nach der anderen Hälfte sucht? Nun, sie soll ein Boot haben, das sie über den See bringt. Die Götter mögen dich beschützen, mein Kind. Und hüte dich vor den Fallstricken der Nacht.«
    Auf diese Weise kam Schesael über den See und erreichte die leeren Einöden, wo Dresaem in seinem melancholischen Zorn umherwanderte.
3
Nächtlicher Zauber
    Dresaem hatte mehrere Monate lang in der Einöde gelebt. Er hatte überlebt, indem er Schlangen und Nagetiere mit einem schweren Stein erschlagen und roh verschlungen hatte, da es ihm nicht in den Sinn kam, ein Feuer zu machen. Um seinen Durst zu löschen, fand er unterirdische

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