Herr der Nacht
unzählige Möglichkeiten in diesem fähigen Schüler ohne Gefahr für sich selbst. Die Fähigkeiten Qebbas, zusammen mit seiner offenherzigen Einfalt und seiner Zähigkeit, machten ihn zum vollkommensten und nützlichsten Gehilfen und Diener. Er tat, was immer Kaschak von ihm verlangte, alles außer einer Sache.
»Geh und pflücke eine goldene Frucht in der Allee!« sagte Kaschak.
Qebba antwortete: »Du hast es mir verboten, Meister.«
Und Kaschak lachte.
Aber selbst die Weisen sind Narren.
Es war das dritte Mal, daß Qebba ihn die goldenen Früchte erwähnen hörte. Einst war er jung und glücklich und von lebhaftem Geist gewesen. Nun regte sich ein verschütteter Gedanke in ihm. In jener Nacht träumte er, er pflücke goldene Früchte in Hülle und Fülle, und sie regneten auf ihn herab, und jede Frucht, die ihn berührte, fühlte sich an wie der warme Kuß eines lieblichen Mädchens, und der Glanz des Goldes glich dem Glanz ihres Haares im Licht der Fackeln.
Qebba erwachte mit einem Schrei und ohne genau zu wissen, was er tat, rannte er in den nächtlichen Garten, in die Allee der schwarzen Bäume und streckte eine Hand hinauf und griff nach dem, was da glitzernd wuchs.
Sofort erschien eine Schlange, die sich um die Äste wand, eine gefleckte Schlange in Karmesinrot und Grün, die mit ihren Zähnen nach Qebbas Hand schnappte. Aber Qebba kannte inzwischen einen Zauber gegen wilde Tiere, fliegende Ungeheuer und Reptilien; den sprach er aus, und die Schlange schrumpfte zusammen, verwandelte sich in ein geflochtenes Band aus grüner und roter Seide und fiel in die Büsche.
Dann griff Qebba wieder nach der Frucht, aber diesmal wurde sie heiß wie Feuer und versengte ihn, und er konnte sie nicht anfassen. Aber Qebba hatte einen Zauberspruch gelernt, um heiße Dinge abzukühlen, und diesen sprach er nun aus, und die Frucht war wieder kalt.
Da nahm Qebba sie in beide Hände und zog daran, aber die Frucht ließ sich nicht von dem Baum ablösen. Also sprach Qebba einen Zauberspruch der Lösung, und die Frucht fiel herab.
Qebba betrachtete die Frucht, als sie auf dem blauen Gras. des Rasens lag. Er wußte nicht, was er damit anfangen sollte, nachdem er sie gepflückt hatte. Aber im nächsten Augenblick hörte er ein Rascheln im Innern der Frucht, als ob sich dort etwas bewegte, und kurz darauf eine Art Kratzen, als ob etwas herauskommen wollte.
Qebba erschrak, aber stärker als der Schrecken wurde nun ein Gefühl der Dringlichkeit. Fackeln kamen vom Haus des Zauberers herangeschwebt, schwebten durch die Luft, ohne daß jemand sie hielt, und dicht dahinter folgte Kaschak, der kam, um nachzusehen, was zu mitternächtlicher Stunde in seinem Garten geschah.
Also sprach Qebba einen Zauberspruch der Öffnung, und die goldene Frucht zerbrach in zwei Hälften, und ein dünner Rauch stieg daraus hervor.
Wer würde es wagen, sich solch einem Rauch auszusetzen? Für manche mochte er Heilung bedeuten, anderen aber Fluch. Durch die Nase eingeatmet, schien er Augen, Ohren und Gehirn auszufüllen. Einem Menschen, der viele Dinge wußte, würde er noch weit mehr offenbaren, einem Menschen, der wenig wußte, würde er zuviel enthüllen. Sein Name war Selbsterkenntnis.
Qebba atmete diese Droge ein und stolperte davon, ließ die beiden Fruchthälften fallen, schlug sich an den Schädel. Er erinnerte sich an alles: seine Vergangenheit, seinen Namen, seine Jugend, seine Liebe, seinen Verlust, seinen schrecklichen Aufenthalt in den Felsschluchten. Und er hatte erkannt, daß hundert Jahre vergangen waren, daß alles, was ihm wichtig gewesen war, von der Erde verschwunden war. Er war allein und betrogen. Er war ohne eigenes Verschulden der Wucht übernatürlicher Bosheit ausgesetzt gewesen. Menschen hatten ihn verhöhnt und verlacht, hatten ihn geschlagen, gebrannt und verflucht. Und nun suchte man sogar hier einen Tölpel aus ihm zu machen. Er hatte Kaschaks Gerechtigkeit beiseite geschoben, hatte verdrängt, wie er ihn verehrt und sich in seiner Gegenwart ruhig gefühlt hatte wie ein furchtsames Kind, das von seinem Vater beschützt wird. Er glaubte ganz einfach, daß er wieder einmal getäuscht worden war. Er kannte sich selbst, und nun war er bis zum Rand voll mit Wut, Haß und einem Durst, der Welt Schmerzen zuzufügen, wie die Welt und ihre Bewohner ihn verletzt hatten, ihn, den armen Qebba, der seinen früheren Namen nicht mehr tragen konnte, obwohl er sich seiner schließlich erinnert hatte. Armer Qebba, der im Garten des
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