Herr: Die Schattenherren 3 (German Edition)
sie stärker, manchmal schwächer. Möglicherweise rief Nalaji von Zeit zu Zeit die Mondmutter an, was dem göttlichen Wirken Einlass in die Welt des Greifbaren verschaffte. Aber warum blieb dann Brens Gespür beständig lebendig? Nur Nachwehen der Wunderkraft? Oder war Nalaji als Priesterin selbst für ihn spürbar? Wenn das so war, warum hatte man sie so lange in Orgait geduldet? Attego behauptete, ihr klerikaler Hintergrund sei nur sehr wenigen bekannt gewesen. Allen anderen habe sie als Botschafterin Ilyjias ohne Rückhalt in ihrer Heimat gegolten. Auch dem S CHATTENKÖNIG ? Hatten die wenigen Wissenden wirklich gewagt, den Herrscher auf dem Schädelthron im Unklaren zu lassen, um ihren eigenen Vorteil im Netz der Intrigen zu suchen? So wie Attego?
Bren sah zu seinem schnaufenden Gefährten, fragte ihn aber nicht. Zweifellos hatte er von Kirettas Lage gewusst. Bren würde sich alle Einzelheiten zu Attegos Rolle dabei holen, aber das musste warten. Er wollte nicht riskieren, die Beherrschung zu verlieren und den Dunkelrufer hier in der Wildnis zu erschlagen. Er sollte ihm noch bei der Jagd helfen.
Bren sandte seine Sinne aus. Während er auf Attego wartete, der zwei Dutzend Schritt hinter ihm war, schloss er die Augen und tastete nach der genauen Richtung. Er stellte sich vor, er sei eine Kompassnadel, die mal ein wenig nach links zitterte, mal ein wenig nach rechts, sich letztlich aber immer nach Norden einpendelte.
Es misslang.
Sein Gespür war nicht mit einem Kompass zu vergleichen, es war eher wie ein Schatten, der von einer Säule geworfen wurde. Wie ein Kegel ging es von ihm aus, streute und wurde unschärfer, je weiter er in die Ferne forschte. Unruhe erfasste ihn, als er überlegte, was geschähe, wenn sie sich für den falschen Pass entschieden. Mit einem Berg zwischen sich und Kiretta würde die Beute entkommen!
Sein Körper war zu langsam, erst recht, wenn er auf Attego wartete. Er musste eine Möglichkeit finden, seinen Geist auszusenden.
So wie damals, als er G ERG im Thronsaal beobachtet hatte, als der S CHATTENKÖNIG in den Verstand des Verräters gegriffen hatte. Bei diesem Ereignis hatte Bren seine Sinne gleich Kundschaftern ausgeschickt, um die Finsternis zu erforschen. Was er einmal hatte tun können, das konnte er auch wiederholen.
Sicher, die Aufgabe, vor der er jetzt stand, war etwas anderes als die Beobachtung des Wirkens von Magie, aber wer kannte schon seine Grenzen, wenn er sie nicht erprobte?
Bren löste seine Aufmerksamkeit von seinem Körper. Bald hatte er den Eindruck, auf eine fremde Art zu sehen. Nicht mit den Augen, aber dennoch formte sich ein Bild in seinem Kopf. Von den Bäumen um ihn herum, die ihm als Hindernisse erschienen, um die Strudel grauen Wassers waberten. Überhaupt fehlten die Farben. Die Bäume waren schwarz, und sie hatten keine klar umrissene Form. Sie waren eher wie die Kreise in einem Teich, in den man einen Stein geworfen hatte, verzerrten das Grau um sich herum, das seinerseits Wellen warf wie Wasser auf seinem Weg ins Tal. Aber es floss nicht bergab, es quoll aus dem Berg heraus, strömte aus dem Boden und in die Luft hinein, verschwand in Felsen, kam wieder daraus hervor, wich den Bäumen aus. Bren hörte den Schrei einer Eule, erfasste auch sie. Oder erfasste sie eben nicht und konnte an dem Loch in seiner Wahrnehmung erkennen, wo sie flog. Die mit dem Tier wandernden Strudel waren intensiver als jene, die zwischen den Bäumen waberten.
Etwas anderes hatte große Festigkeit, eine nahezu strahlende Klarheit für ihn: Kirettas Haken, der sorgfältig in seiner Truhe verpackt auf dem Pferd verschnallt war. Obwohl das Behältnis, in dem er ruhte, zusätzlich in ein gewachstes Tuch eingeschlagen war, konnte Bren ihn klar erkennen. Das stählerne Glied schwebte in dem Nebel wie eine Daune, die von einem unsichtbaren Spinnennetz gehalten wurde.
»Herr!«, drang von Ferne Attegos Stimme zu ihm. Der Mensch atmete heftig. »Was tut Ihr? Warum verwandelt Ihr Euch?«
Verwandeln? Was meinte der Dunkelrufer damit?
Verwirrt spürte Bren in sich hinein.
Er war hier, wie immer.
Nein. Nicht so wie immer.
Er spürte die Nachtluft nicht mehr auf seiner Haut.
Eigentlich spürte er überhaupt nichts mehr auf seiner Haut.
Auch der Zügel war ihm entglitten.
Es fühlte sich an, als zöge er sich zusammen, kehrte zurück, von wo auch immer.
Er sah Attego an, der ihn mit offenem Mund anstarrte. »Was ist geschehen?«
»Nebelform«, stammelte Attego. »So früh!«
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