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Herr Merse bricht auf

Herr Merse bricht auf

Titel: Herr Merse bricht auf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Nohr
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gelandet und kämpfte jetzt mit sich, ob er das Zittern mit SB beruhigen sollte. Er fühlte sich in der Klemme: Eine Verwechslung von Frau und Phantasie war gefährlich, siehe Darinx; aber innerlich saß er bereits so fest am Haken der braunlockigen Buchhändlerin, dass er keinerlei Lust auf eine anonyme Phantasiefrau verspürte. SB erschien ihm andererseits als die einzige Möglichkeit, das Zittern loszuwerden. Kalte Dusche, hätte sein Vater empfohlen. Wenn sie denn je darüber gesprochen hätten. Herr Merse versuchte es mit Kniebeugen. Das Zittern hörte nicht auf. Er legte sich wieder hin. In Dagmars » Brigitte« hatte er etwas über therapeutisches Selbsterregen gelesen, aber galt das nur für Frauen?
    Ihm fielen die Rettungsschwimmer als Bindeglied zwischen einer Anonyma und Frau Luner ein. Er mutierte mit geschlossenen Augen, die Hand am Glied, etwas zögerlich zu einem kräftigen Rettungsschwimmer und zog eine nackte Frau aus dem Wasser, die schreiend und armwedelnd eine Ertrinkende gespielt hatte, um die Aufmerksamkeit der Männer auf sich zu ziehen. Er stellte sich vor, wie Frau Luner der Rettungsaktion von ferne beiwohnte und ihn bewunderte. Er hatte die Absicht der » Ertrinkenden« von Anfang an durchschaut und cremte sie nun am ganzen Körper angeblich aus Wiederbelebungsgründen ein… Herr Merse versuchte sich mit dem Bild der nackt auf dem umgedrehten Rettungsboot ausgebreiteten Frau weiter zu erregen, spürte aber aus der Ferne Frau Luners Augen auf sich. Was tue ich?, stöhnte er in dem flachen Höhepunkt, warf sich auf die Seite und begann haltlos ins Kissen zu schluchzen.
    Das Zittern blieb. Er ging zum Strand und absolvierte sein Laufpensum. Auch nach dem Joggen war es genau wie vorher. Ein leises, ununterdrückbares, mit den Augen kaum wahrnehmbares Zittern, wie die leichte Erschütterung einer Wackelpuddingoberfläche. Die Tabletten, dachte er. Oder die Aufregung? Weil sie heute zurückkam? Nein, die Tabletten waren der Grund, nicht Frau Luner. Es war ein fremdes Zittern, nicht das vor Aufregung. Er las sich die Nebenwirkungsliste auf dem Packungszettel durch, aber er stieß nur auf den ihm bekannten Hinweis, das Absetzen der Tabletten solle in Rücksprache mit dem Arzt erfolgen. Wenn er zum Arzt ginge? Nein. Er kannte hier keinen und bezweifelte außerdem, dass es auf einer gesunden Insel wie Sylt überhaupt einen Neurologen gab. Er entschied, seine Morgentablette nicht zu nehmen, denn die wirkte ja anschiebend, das brauchte er auf keinen Fall; er brauchte Beruhigung. Daher nahm er nach dem Frühstück aufgrund der » besonderen Umstände« eine halbe Abendtablette.
    Für das Orakel war er zu unruhig, fürs Hornüben war es zu früh, Lesen absorbierte ihn nicht genug, die Zeitung hatte er beim Frühstück schon halbherzig durchflogen. Dann lieber jetzt mit dem Fahrrad nach Westerland fahren und am Bahnhof nachsehen, wann Züge aus Berlin ankämen; außerdem guten Wein einkaufen, für alle Fälle; auf dem Rückweg könnte er unauffällig durch den Lerchenweg radeln. Danach üben. So würde er den Vormittag herumbringen.
    Die Westerlandtour tat Herrn Merse trotz des klappernden Damenfahrrads gut. Am Bahnhof ermittelte er mit einem Anflug von schlechtem Gewissen und Scham ( » Merse als Nick Knatterton«), dass täglich zwei Züge aus Berlin ankamen, einer gegen Mittag– da musste man morgens recht früh aufgestanden sein–, einer am frühen Abend um 17 . 46 , der, mit dem er vor inzwischen fünf Tagen auch gekommen war. Er trank einen Milchkaffee in der Einkaufszone. Sollte er hier unauffällig auf den Mittagszug warten? Nein, in Wenningstedt, am Strand oder beim Einkaufen gäbe es unverdächtigere Begegnungsmöglichkeiten. Frau Luner sollte keinesfalls die Bedeutung mitkriegen, die sie für ihn hatte.
    Welche Bedeutung? Diese Frage beunruhigte ihn. Ließ sie ihn zittern? Etwas passierte mit ihm, ohne dass er es kontrollieren konnte. Er war unversehens aus seinem durchgetakteten Tagesablauf herausgespült worden wie aus dem geöffneten Fenster einer Eisenbahn, die bei Sturmflut auf dem Hindenburgdamm stehen geblieben war– E pericoloso sporgersi!–, und fand sich in einer fremden Strömung wieder, mitgezogen wie ein langes Stück Treibholz. Die Strömung war reißend. War er nicht wie unter Zwang hierhergeradelt? Er musste jetzt unbedingt auf sich aufpassen, zum Beispiel eine Insel wahrnehmen und dort anlanden, sich an einer langen Wurzel, die vom Ufer ins Wasser hing, festhalten. Ja, er

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