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Herr Merse bricht auf

Herr Merse bricht auf

Titel: Herr Merse bricht auf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Nohr
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musste aufpassen.
    Das Zittern war besser nach der Westerlandtour, aber weg war es nicht. Er verstaute den Rotwein, aß einen Apfel und begann zu üben. Den langsamen Satz aus dem Horntrio. Den Brahms nach dem Tod seiner Mutter komponiert hatte. Einen Trauersatz. Dunkle, langsame Klänge. Er konzentrierte sich auf einen runden Ton. Mit einer Phrase war er schließlich zufrieden, wollte sie festigen, bekam es nicht mehr hin und stürzte innerlich ab. Seinen Schülern sagte er immer: » Alles ist ein einziger Fluss, mal klappt es, mal nicht, versuch nicht, dich an feste Ziele zu klammern, sondern hör dir zu bei dem, was du tust.« Was ich den Schülern predige, gelingt mir selbst nicht, dachte er verzweifelt. Wenn es nicht mal dieses eine gab, in dem er ganz enthalten war, was blieb dann? Wer war er? ( » Eine Null ist eine Null, Ingo hat die Hosen full.«) » Eine Null ist in sich selbst unendlich«, hörte er sich plötzlich gegen Dagmar sagen und malte dazu mit der rechten Hand einen Kreis in die Luft. Ihm kamen Tränen. Verdammt, er war labil geworden. Er packte den Picknickkorb für den Strand und steckte nur einen Krimi ein. Wieder nahm er die Wasserflasche und etwas für die Kinder mit. Und für alle Fälle die zwei Kaffeetassen.
    * * *
    Es war ein blendend heller Sommermittag. Die Möwen so weiß wie die Wellenschaumkronen. Das Meer dunkel-, der Himmel königsblau. Keine Wolke. Sonnencremetag. Badetag. Unten am Kliff das volle Strandleben. Herr Merse badete ausgiebig, duschte, ohne zum 50 er Feld zu gucken, wärmte sich in der Sonne vor seinem Korb und drehte ihn dann so, dass er im Schatten saß. Lustlos vertiefte er sich in den Krimi und aß dabei seine Brote. Nach einer Weile kam er in die Geschichte hinein. Er fühlte sich erleichtert. Da kratzte es hinten am Korb. » Hallo!« Es war Joel. Mit einer Cremetube. » Ob du mich am Rücken eincremen könntest?«, fragte der Junge. Er wirkte verlegen. » Na klar«, sagte Herr Merse. Er schmierte ihm die Schultern gründlich ein. » Besser wär ein T-Shirt «, meinte er. » Solange du dich noch schälst.« » Danke«, sagte Joel. » Ich geh denn mal zu meinem Labyrinth.« Er blieb aber stehen.
    Herr Merse erkundigte sich, ob denn über Nacht von dem Labyrinth noch etwas übrig geblieben sei. » Was heißt übrig?«, fragte Joel. » Ich hab den ganzen Vormittag ein neues gebaut. Will ich Mama zeigen, wenn sie nachher kommt.« Herr Merse schluckte. Er wollte Joel die Wasserflasche mitgeben, aber besann sich. » Ich komm nachher mal und guck es mir auch an, ok?« fragte er. » Ok«, sagte Joel. Es war nicht herauszuhören, ob er sich darüber freute oder ob er sich gewünscht hätte, dass Herr Merse jetzt schon mitkam, oder ob er so in Vorfreude auf seine Mutter war, dass nichts anderes in ihm Raum fand.
    » Ok, ok, ok« hallte es in Herrn Merse nach. Warum hörte er nichts heraus? Weil nichts drin war? Weil er es nicht hören konnte? Weil er sich nicht auskannte mit so jungen Kindern? Warum hatte er Joel nicht einfach gefragt: » Soll ich mitkommen?« Oder: » Wollen wir es gemeinsam weiter bauen?« Oder: » Wollen wir damit spielen?« Aber der Junge spielte ja lieber allein. Entwarf. Konstruierte.
    Plötzlich guckte Joels Jungengesicht wieder um die Ecke. » Natascha sagt, ich soll dich nicht nerven«, lächelte er verlegen. » Aber wie war das mit dem Minotaurus?« Herr Merse lachte. » Ich sag schon, wenn mich was nervt. Lass uns das spielen mit dem Minotaurus.«
    Sie gingen nebeneinander über den Sand zu einer freien Stelle, fast einem Quadrat, das Joel durch vier niedrige, ziemlich lange Sandwälle von der Umgebung abgesetzt hatte. » Damit keiner durchlatscht«, erklärte Joel. Herr Merse hasste das Wort »latschen« ( » Langer Lulatsch latscht und quatscht«), aber aus Joels Mund hörte es sich harmlos an. Er schwieg und starrte auf das neue Labyrinth. Es sah erstaunlich aus. Joel hatte Strandhafer, Gräser, dünne Halme und Heidezweiglein gesammelt und sie dicht nebeneinander in die Wälle gesteckt, so dass ein veritables Heckenlabyrinth entstanden war. » Sieht toll aus«, sagte Herr Merse beeindruckt. » Aber wie soll man damit spielen? Es ist mehr ein Kunstwerk, oder? Man kann schlecht ran, ohne es kaputt zu machen.« » Weiß nicht«, sagte Joel mit dem gleichen tonlosen Ausdruck, mit dem er vorhin » Ok« gesagt hatte.
    Herr Merse ließ sich auf alle viere nieder. » Also, wenn wir Minotaurus spielen wollen, dann sieht das so aus, dass der

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