Herr Merse bricht auf
morgen«, sagte Joel plötzlich mit seiner normalen Stimme, stand auf und ging zum Strandkorb.
Herr Merse schaute auf das Durcheinander im Sand und spürte seine eigene Erschöpfung.
Er ging zur 1423 und machte sich zum Baden bereit. Er hatte alles Zeitgefühl verloren, trieb dahin. In ihm war etwas geschehen. Etwas war gerissen, etwas war gewachsen. Er hörte immer noch Klopfzeichen. Unter dem Strand klopfte es wie von Pferdehufen, in seinem Inneren schlug etwas gegen eine schwere Tür. Im Wasser auf dem Rücken liegend, sah er sich auf einem Pferd zu Dagmar galoppieren, sie hochreißen vom Boden, vor sich auf das Pferd schwingen. Er schüttelte sie wie eine Puppe, sie schlackerte und wehrte sich nicht, sie war eine Vogelscheuche, aus ihr fiel etwas heraus, blutig, zerfetzt, klein. Er verscheuchte das Bild und hielt die leichte Frau Luner vor sich auf dem Pferd. Sie schmiegte sich an ihn, er ritt und spürte sie zwischen seinen Armen. Er schwamm, bis er nicht mehr konnte. Ohne das Salzwasser abzuduschen, ging er mit nasser Badehose im Bademantel nach Hause.
* * *
Nach dem Essen legte er sich aufs Bett. Sie hatte sich ihm anvertraut und ihm ihre Geschichte erzählt. Er hatte nicht alles mitbekommen, aber einiges. Das Wichtigste: Es war aus mit ihrem Chef. Sie war frei. Sie war allein. Wie er. Sie war so alt wie er. Sie war unglücklich. Wie er. Sie war » so voll« mit dem verlorenen Ladenparadies. Er war » so voll« mit dem abgetriebenen Sohn. Zwei mit Unglück angefüllte Menschen im Strandkorb. Hatte er ihr Unglück etwa aktiv in seinen Saugraum hineingezogen? Er bekam es mit der Angst und ließ den Gesprächsbeginn Revue passieren. Nein. Sie hatte definitiv von sich aus erzählt, hatte ihre Schleusen geöffnet, es war aus den Schleusentoren direkt in ihn eingeströmt. Es hatte ihr gutgetan. » Sie sind ein ungewöhnlicher Mensch.« Ihr Satz hallte wieder und wieder in seinen Ohren, er sang ihn selig vor sich hin.
» Johannes!«, rief er. » Sie findet mich ungewöhnlich! Sie hat mir ihre Geschichte erzählt! Ich spiele mit ihrem Sohn! Wir haben uns über dem Heckenlabyrinth angeschaut wie Eltern! Alles begann bei ihr mit dem Unfall…« Er wollte die ganze Geschichte haarklein noch einmal in Johannes’ hellblaue Augen hinein erzählen. Aber Johannes unterbrach ihn: » Unfall? Wie kam es dazu?« Die nüchterne Frage erstickte augenblicklich Herrn Merses Erzähldrang. Was wusste er über den Unfall? So gut wie nichts. Weil er nicht nachgefragt hatte. Er hatte überhaupt an vielen bedeutsamen Stellen versäumt nachzufragen. Wer war schuld an dem Unfall gewesen? Frau Luner hatte nichts dazu gesagt. Oder er hatte es überhört, weil er vor Glück die Hälfte nicht mitbekommen hatte. Sicher war der Freund als Fahrer schuld gewesen. Er sah Frau Luner auf dem Beifahrersitz zu dem Unglücksfreund am Steuer schauen. Was war passiert? Hatte sie so die Narbe bekommen? Wieso hatte er sie nicht danach gefragt? Wenn er mehr gefragt hätte, säßen sie jetzt noch da. Dieses Schafhafte an ihm!
Sicher war es anders herum gewesen: Nicht sie hatte zum Freund, sondern er hatte beim Fahren zu ihr hinübergesehen. War abgelenkt gewesen. Das war doch nur natürlich!, dachte Herr Merse. Er hätte gar nicht mit ihr Auto fahren dürfen! Oder er hatte seine Hand auf ihren Oberschenkel gelegt. Auch das war ja nur natürlich. Herr Merse sah eine Männerhand von der Gangschaltung über die Mittelkonsole gleiten und Frau Luners Knie erreichen…
Er fuhr hoch. Halt. Kein Abdriften! » Ich frage sie«, versprach er Johannes. » Ich weiß nicht, wie es war.« » Denn alles Fleisch, es ist wie Sand, und alle Menschen wie des Grases Blume«, tönte es innerlich in ihm, er hörte den Chor, sah Frau Luner andächtig auf den Chorleiter schauen, es sang aus ihrem Mund. In der Kirche saß in vorderster Reihe ein junger Mann im Rollstuhl, dunkelhaarig, schmächtig, nein dick, sehr dick geworden, er aß aß aß, sogar in der Kirche kaute er langsam vor sich hin, Herr Merse sah seine Wangenknochen auf und nieder gehen. Das war er also. Gelähmt vom Rücken abwärts wegen eines Blicks. Er tat ihm leid. Obwohl er zunächst eifersüchtig auf ihn gewesen war. Der hatte es ja schlimmer als er selbst. Dann doch lieber ab mit der schwarzen Kutsche? Ob der Schwanz durch Querschnittslähmung auch außer Gefecht gesetzt wurde? ( » Blödmann. Vom Rücken ab nach unten durch ist nix mehr.«) Er hörte Dagmars Stimme, und ihm schwoll der Kamm. Was hatte sie
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