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Herr Merse bricht auf

Herr Merse bricht auf

Titel: Herr Merse bricht auf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Nohr
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fremdes Leid zu kommentieren! » Hör auf«, fuhr er die Stimme an. » Was weißt du über Querschnittsgelähmte?« Johannes nickte beifällig vom Klavier herüber. » Was weiß man schon voneinander«, war die schnippische, aber spürbar besiegte Antwort von Dagmars Stimme. » Ich weiß jetzt viel über Anemone«, wollte Herr Merse entgegnen, zögerte dann, verschluckte den Satz. Blödsinn. Zu vieles wusste er eben nicht. Zum Beispiel, warum ihr Studentenfreund, der Orgelspieler, plötzlich abgehauen war.
    Plötzlich abgehauen. Herr Merse sprang auf mit einem erschreckenden Gedanken. » Von wem ist Joel? Johannes, von wem ist der Junge?« Vielleicht hatte der Student gedacht, das Kind sei von ihm, und flüchtete, weil er kein Kind wollte, nur an seine Karriere dachte… » Was geht mich dieser Student an?«, entfuhr es ihm wieder laut. » Aber sie! Sie geht mich an!« Er brauchte die Wahrheit. Die Wahrheit darüber, was Frauen mit Männersamen veranstalteten. Wie war diese Zeugung ganz genau verlaufen? Hatte sie eine Schwangerschaft, als sie mit dem Studenten schlief, einfach in Kauf genommen? Karl eins auswischen, sich mit einem Kind von einem anderen Mann trösten wollen? Oder sich mit einem Kind bestrafen? Oder war Joel doch von Karl?
    Herr Merse wanderte auf und ab, ergriff die Flasche Rotwein und eine Decke. Was weiß man schon voneinander. Vielleicht ist gar nicht Schluss mit dem Chef. Herrn Merse wurde schwindelig. Er zwang sich, ruhig und gleichmäßig zu atmen. Klar zu denken. Er würde den Abend in der 1423 verbringen. Sollte er zwei Gläser einstecken? Er holte den Käse aus dem Kühlschrank. Zum Rotwein. Falls sie kam. Sie hatte sich auch über die beiden Kaffeetassen gefreut. Und dann würde er gezielt und nachdrücklich fragen: nach dem Unfall, nach der Zeugung, nach dem Chef. Aus dem klaren Wachsabdruck ihrer Lebenslinien in ihm war eine verschmierte Masse geworden. Man sah in dieser Masse nicht mehr, wo ihre Linien aufhörten und seine begannen.
    » Ich mache mir jetzt einen Zettel«, sagte er. Er schaute zu Johannes hinüber, der in der Ecke neben dem Klavier stand. Nein, neben einem Flügel. Johannes schrieb auch. Er schrieb im Stehen mit einer Feder auf Notenpapier, das er auf den geschlossenen Flügel gelegt hatte. Er nickte. » Ja, ja, schreib man auf…«
    Herr Merse ging auf Papiersuche in Barbaras winziger Abstellkammer. Auf einem schmalen Regal lagen Haushaltsutensilien, auch ein kleines Vorhängeschloss. Er nahm es an sich; vielleicht konnte er damit die Schublade des Strandkorbs sichern, der ihm ans Herz gewachsen war, seit er mit Frau Luner darin gesessen hatte. Er fand einen Stapel vergilbter kleiner Abreißblocks von früher. Herr Merse erkannte sie wieder und sah sogleich seine Mutter vor sich, wie sie von den Blocks ihre Einkaufszettel abriss und mit einem Bleistift beschrieb. Er wählte einen grün umrandeten Block mit Werbung für Vivil-Pfefferminzdrops, setzte sich und notierte Fragen:
    Woher stammt die Narbe?
    Wie ist es zu dem Unfall gekommen?
    Wer ist der Vater von Joel?
    Wie geschah die Zeugung von Joel?
    Warum war sie immer so aufgeregt beim Dirigieren? Und Vorspielen?
    War sie auch aufgeregt beim Singen? Nur wenn sie allein sang oder im Chor auch?
    Warum floh der Student?
    Wieso war sie bei Karl abgeschrieben, als Natascha kam?
    Wie weit ging die Beziehung zu ihrem Chef?
    Wie stand sie jetzt zu ihrem Chef?
    Wie wünschte sie sich die Beziehung zu ihrem Chef?
    Was wollte sie jetzt beruflich tun?
    Welche Schwierigkeiten hatte Joel noch?
    Warum gab sie sich mit der Beziehung zu einem verheirateten älteren Chef zufrieden, wo sie so eine wunderbare Frau war und jeden Mann haben könnte?
    Er kritzelte Zettel um Zettel voll. Die Fragen spannen sich aus ihm heraus wie ein endloses Wollgespinst aus seiner Kinderstrickliesel, vor allem solche, die um den Chef kreisten. So ging es nicht! Er musste Fragen streichen. Aber welche? Er ging mit dem Zettel zu Johannes, und zusammen kamen sie zu dem Schluss, dass er nur drei Fragen stellen sollte:
    Woher stammt die Narbe?
    Wie ist es zu dem Unfall gekommen?
    Warum war sie so aufgeregt, dass sie ihr Studium schmeißen musste?
    Diese Fragen schienen ihnen unverfänglich, sie bildeten einen guten Gesprächsanfang. Wenn Frau Luner bereit wäre, sie zu beantworten, könnte er weitere stellen. Später. Herr Merse schrieb die drei Fragen auf einen neuen Einkaufszettel. Vergilbter Zettel, vergangene Zeit, dachte er. Die vollgeschriebenen Zettel

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