Herr Merse bricht auf
du? Du hast ’ne Zwillingsschwester. Erzählst ihr alles. Ging das so? Kann ich das von Barbara verlangen?« Von Ulrich kam ein wissendes Lächeln. » Schwestern tun, was sie tun«, sagte er. Mehr nicht. Das klang orakelhaft vieldeutig. Herr Merse überlegte, ob er das Buch noch einmal zurate ziehen solle. Das mit dem » Stopp!« war vielleicht nur ein Vororakel gewesen. Wie die leere Seite. Kein echtes Textorakel. Außerdem: Für die Hauptfrage brachte es mehr Unsicherheit als Klarheit. Denn wenn er es ganz direkt auf Frau Luner bezöge, würde es ja heißen, er solle stoppen. Ihr seine Liebe nicht gestehen. Herr Merse schluckte. Richtig gut passte es nur auf Barbara.
Er schüttelte den Kopf. Oder sollte das Stopporakel einfach nur Ulrichs Tablettentipp gewesen sein? Es passte und es passte nicht, es war zum Wahnsinnigwerden. Man konnte es so drehen: dass er schon früher zu den Tabletten hätte » Stopp!« sagen sollen. Oder umgekehrt: dass er heute auf jeden Fall Tabletten einnehmen sollte, weil sonst zu früh mit Kraft und Mut stopp war. Er stöhnte.
Das Buch schaute ihn mit ruhiger Aufforderung an.
Er landete im zweiten Kapitel des dritten Teils und bemerkte, dass er nur zwei Seiten nach dem schon einmal getroffenen Kapitelbeginn » Die vergessene Schwester« angehalten hatte. Er las die Seite dieses Mal still durch und begriff mit erstauntem Aha, dass Agathe Ulrichs Zwillingsschwester war. Das erklärte einiges. Er beglückwünschte Ulrich zu dieser Schwester. Und freute sich noch mehr, als er ihre Worte las: » Ich werde nicht mehr zu Hagauer zurückkehren.« Gut, Agathe!, dachte er. Sehr gute Entscheidung. Danach wurde beschrieben, wie die Geschwister ihren im Zimmer aufgebahrten toten Vater betrachten:
Der lag auf seinem Sockel, wie er es angeordnet hatte: im Frack, das Bahrtuch bis zur halben Höhe der Brust, darüber das steife Hemd hervorkam, die Hände gefaltet ohne Kruzifix, die Orden angelegt. Kleine harte Augenbögen, eingefallene Wangen und Lippen. In die schauerliche, augenlose Totenhaut eingenäht, die noch ein Teil des Wesens ist und schon fremd; der Reisesack des Lebens. Ulrich fühlte sich unwillkürlich an der Wurzel des Daseins erschüttert, wo kein Gefühl und kein Gedanke ist; aber nirgends sonst. Wenn er es hätte aussprechen müssen, hätte er nur zu sagen vermocht, daß ein lästiges Verhältnis ohne Liebe geendet habe. So, wie eine schlechte Ehe die Menschen schlecht macht, die sich nicht von ihr befreien können, tut es jedes für die Ewigkeit berechnete, schwer aufliegende Band, wenn das Zeitliche unter ihm wegschrumpft.
Die Seite war noch nicht zu Ende, aber Herr Merse war zu bewegt, um weiterzulesen. Die menschliche Haut als » Reisesack des Lebens« beschrieben zu finden, kam ihm auf endgültige Art einleuchtend vor. Er hatte noch nie einen toten Menschen gesehen. Die » augenlose Totenhaut« machte ihn traurig. Er stellte sich vor, dass die Haut eines Toten fahl wurde. Den Glanz verlor. Wie das Auge. Trocken und glanzlos. Vielleicht hatte der tote Vater auch im Leben Ulrich ohne Glanz in den Augen angeschaut. Wie Dagmar ihn. Schon als Baby mit glanzlosen Augen betrachtet zu werden, so wie Joel von Karl, da legte sich selbst eine junge Stirn in Falten. Sicher war es dem über Unendlichkeitsnullen nachsinnenden Kind in Westerland am Lebensbeginn auch so ergangen. Und ihm selbst? Herr Merse wusste es nicht.
Er schaute auf das aufgeklappt vor ihm liegende Buch. Wie war es möglich, so ein Bild zu erdenken? So ein dickes Buch zu schreiben? Er sah aus einem großen schattenhaften Füllhorn, das der ihm unbekannte Musil mit seinen Händen kaum umfassen konnte und das zum Himmel hin offen war, eine unermessliche Anzahl von Worten auf leere Seiten tropfen und sich dort zu Zeilen, Absätzen und Kapiteln formieren. Nur wenn man so ein Seelenfüllhorn hochhielt, ging das. Das konnte man sich nicht hinter einer Grübelstirn ausdenken. Und wer las wann je so ein Buch? Er jedenfalls würde Jahre brauchen für dieses Buch mit allen Saugräumen und Reisesäcken. Herr Merse sah sich mit Frau Luner Abend für Abend auf einer Bank sitzen. Sie lasen sich gegenseitig aus dem Buch vor, bis sich aus all den gelesenen und den dazu ausgetauschten Wörtern, Gedanken, Gefühlen und Bildern ein immaterieller Reisesack um sie beide herum wob.
Herr Merse ging auf und ab. Vor Ulrich empfand er Hochachtung. Ganz sicher war Ulrich ein Kind mit angeborenen Stirnfalten. Ulrich hatte schon denkend im
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