Herrentag: Anwalt Fickels erster Fall (German Edition)
Kulissen die Strippen gezogen und programmatisch mitgemischt hatte, wer wollte das verübeln?
Das alles ging dem Kriminalrat Recknagel durch den Kopf, während der Facharzt für Rechtsmedizin Haselhoff seinen Abschlussbericht vortrug. Er war so in seinen Gedanken gefangen, dass er den letzten Satz nur zur Hälfte mitbekam. »Können Sie das noch mal wiederholen?«, fragte der Kriminalrat deshalb. Der Haselhoff lächelte mitleidig und erklärte etwas herablassend: »Der Täter ist zu früh gekommen.«
Recknagel reagierte genervt: »Ich weiß, was ›vorzeitige Ejakulation‹ bedeutet. Heißt das, der Täter hat das Opfer überhaupt nicht vergewaltigt?«
»Es ist jedenfalls nicht zu einer Penetration gekommen, falls Sie das meinen.«
»Auch nicht …?«
Der Haselhoff wartete einige Sekunden ab, ob der Recknagel seine Frage noch ausformulieren würde, bevor er im freundlichsten Plauderton antwortete: »Wir haben alle infrage kommenden Schleimhäute untersucht: nichts, nada, niente. Oder ›nitschewo‹, wenn Ihnen das besser gefällt.«
Was den Haselhoff für den Recknagel so schwer erträglich machte, war nicht sein Humor, auch nicht sein notorisches Besserwissertum, das Problem war, dass er eigentlich nur nett sein wollte. Ein menschenfreundlicher Rechtsmediziner.
Der Recknagel dachte nach. Er war inzwischen gottfroh, dass die Oberstaatsanwältin ihm hinsichtlich der Reihenuntersuchung die Pistole auf die Brust gesetzt hatte. Vielleicht sollte sie tatsächlich auf die Oberstufen und Berufsschulen ausgeweitet werden. Der Kaugummi, der Überfall mit der ungewöhnlich ungestümen sexuellen Gewalt und schließlich Mord aus Entsetzen über das Getane – das alles sprach für einen sehr jungen Täter, einen Pubertierenden, geplagt von seiner übermächtigen Libido. Wegen des Kaugummis hätte er am liebsten sogar alle Jugendlichen untersucht, aber das wäre der Presse bei einem Vergewaltigungsmord sicher nicht leicht zu erklären gewesen, ganz zu schweigen von der Gundelwein.
»War sie schwanger, oder ist das das Werk Ihrer Obduktionsmethoden?« Kriminalrat Recknagel zeigte auf den Bauch der Leiche, der unnatürlich gewölbt erschien.
»Interessant, dass Ihnen das auffällt – als Laie«, meinte der Haselhoff.
Der Recknagel hatte drei Töchter und einen Sohn. Bei Schwangerenbäuchen kannte er sich weiß Gott aus. Aber das ging den Haselhoff einen Feuchten an.
»Sie war nicht schwanger«, erklärte der Haselhoff mit der Miene eines Archäologen, der von der Entdeckung Trojas kündete, »aber sie wollte es werden.«
Der Kriminalrat war nicht sonderlich überrascht. Eine kinderlose Frau Ende dreißig, die auf dem vorläufigen Gipfel ihrer Karriere angekommen war – da musste man nicht über allzu viel Fantasie verfügen.
»Hat sie Ihnen das erzählt?«, fragte der Recknagel mit leiser Ironie.
»Sie nicht, aber ihr Blut«, erklärte der Haselhoff ungerührt. »Wir haben sowohl Clomifen als auch ein follikelstimulierendes Hormon darin gefunden, das die Reifung der Eizellen und den Eisprung unterstützen soll. Die Therapie führt zu einer quasi antizipierten Wölbung des Abdomens. Steht im Übrigen auch alles in meinem Bericht.«
Recknagel nickte. Das Phänomen, dass Frauen immer später einen Kinderwunsch entwickelten, der sich dann nicht mehr ohne medizinische Hilfe realisieren ließ, war ihm aus den Medien durchaus vertraut. Immer wenn er einen Artikel über das heutige Geschlechterverhältnis las, war er froh, nicht mehr jung zu sein. Seine älteste Tochter wurde bald dreißig, und sie hatte noch nie mit einem Mann zusammengelebt. Vom Kinderkriegen sprach sie wie von der Rente. Irgendwann würde sie sich darum kümmern.
Der Kriminalrat blickte auf die Tote und kratzte sich am Kopf. Sein Bauchgefühl sagte ihm, dass bei diesem Mordfall nichts so klar war, wie es im ersten Moment schien. Diese knochige und zähe, beinahe maskulin wirkende Frau mit den schmalen Lippen war sicher nicht der Prototyp eines Vergewaltigungsopfers. Männer, die solche Taten begingen, waren im Herzen meistens Feiglinge. Sie suchten sich überwiegend leichte Beute, schwache Frauen aus ihrem Umfeld, also eigentlich genau das Gegenteil einer selbstbewussten Karrierejuristin. Wenn es sich allerdings um einen bislang unbekannten skrupellosen Triebtäter handelte, der seine Opfer wahllos überfiel, dann suchten sie die Nadel im Heuhaufen. Just an diesem Punkt nahm der Kriminalrat sich vor, noch vor dem Feiertag seinen vorläufigen Bericht
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