Herrentag: Anwalt Fickels erster Fall (German Edition)
entschlossen hinein. Insgesamt wirkte das Seniorenheim entgegen dem äußeren Eindruck innen sehr freundlich, fast gepflegt – auch wenn im Schwimmbad im Keller gerade das Wasser abgelassen war und die Teppiche im Flur vielleicht nicht den allersaubersten Eindruck hinterließen.
Der Fickel wanderte ziellos herum, schlenderte durch die Etagen und erhaschte hier oder da einen kurzen Blick in die Zimmer. Letztlich fühlte er sich fast wie auf einem Spaziergang durch das Meininger Szeneviertel: Silver Ager – vom rüstigen Rentner bis zum Tattergreis – bevölkerten die Gemeinschaftsräume, tranken Tee, zockten Karten- und Brettspiele oder ergötzten sich am Fernsehprogramm.
Immerhin fand er nach einigen Irrwegen tatsächlich das Sekretariat. Und als er da auf einem Schild »Heimleitung Heike Dietz« las, da klickte es in Fickels Denkapparat derart laut, dass es fast für die in der Nähe befindlichen Hörgeschädigten zu vernehmen war. Schließlich war Heike Dietz an seiner Schule Freundschaftspionierleiterin [ 29 ], im Nachhinein muss man wohl sagen: so etwas wie ein Sexsymbol, gewesen – eine Art kommunistische Samantha Fox, denn sie hatte mit ihren zarten dreiundzwanzig Jahren ihre FDJ -Bluse genauso perfekt ausgefüllt wie ihren Job, sodass die pubertierenden Schüler aus den achten bis zehnten Klassen plötzlich reihenweise ihr Herz für den Marxismus-Leninismus entdeckt hatten. Jedenfalls bis die Gerüchte auftauchten, dass sie mit dem erzstalinistischen Exner heimlich im Lehrerzimmer rumknutschte. Da waren einige vom Glauben abgefallen, damals.
Irgendwann hatten die beiden, wie der Fickel sich richtig erinnerte, sogar geheiratet, auch wenn die Heike offenbar immer noch ihren Mädchennamen trug. Natürlich konnte man an einen Zufall glauben, wenn die Frau des einstigen Staatsbürgerkundelehrers und jetzigen Vorsitzenden des Betreuungsvereins »Nachbarn in Meiningen« e. V. als Leiterin eines Seniorenheimes fungierte. Aber der Fickel ist eher von der Sorte, der den Leuten in so einem Fall Vorsatz unterstellt. Immerhin war die Heike Dietz schon an der Schule eher für ihr Dekolleté als für ihre Pfiffigkeit berühmt gewesen, und wie ausgerechnet sie jetzt als Geschäftsführerin einer GmbH ein Seniorenheim leiten sollte, das war dem Fickel absolut schleierhaft. Aber leider wurde dem Fickel eine Auffrischung der Bekanntschaft verwehrt, denn er konnte klopfen, solange er wollte: Die Tür zum Sekretariat war abgeschlossen, was an einem Sonntag eigentlich niemanden verwundern konnte, am wenigsten den Fickel.
Doch als er zum Abschluss seines Rundgangs ins höchste Stockwerk hinaufsteigen wollte, stand er schon wieder vor einer Tür; diesmal war sie zwar nur aus Gitter, aber wo andere Türen eine Klinke haben, hatte diese einen Knauf, sodass man sie ohne Schlüssel nicht öffnen konnte. Der Fickel ist aber nun mal neugierig, und deshalb zerrte er seine Kreditkarte heraus, die er noch nie bestimmungsgemäß benutzt hatte, und versuchte, die Tür mit der Matula-Methode zu öffnen. Doch gerade als er den richtigen Dreh gefunden zu haben glaubte, hörte er hinter sich einen dünnen, spitzen Schrei: »Zu Hilfe! Einbrecher!!!«
Da fuhr dem Fickel vielleicht der Schock ins Hemd, faktisch knapp vor Herzinfarkt! Doch als er auf dem Absatz herumfuhr, stand hinter ihm nur eine winzig kleine, hutzelige Frau, die ihn mit schreckhaft geweiteten Augen anstarrte. Sie hatte lediglich ein dünnes Nachthemd am Leib und war barfuß. Ihre drahtigen grauen Haare standen hysterisch in alle Richtungen vom Schädel ab, sodass man gleich an das berühmte Foto von Albert Einstein denken musste. Nur dass der Fickel die Frau auf fünfundneunzig Lenze getippt hätte, mindestens. Und komisch, je älter die Dame, desto galanter der Fickel.
»Ich bin doch nur der Haustechniker!«, sagte er und ging mit beruhigenden Gesten auf sie zu. Doch damit erreichte er nur das Gegenteil. Die Seniorin geriet in Panik.
»Nein, bitte, tun Sie mir nichts an, Sie Unmensch! Alarm!« Ihre schrille, durchdringende Stimme klang jetzt nach echter Verzweiflung, und die Sache wurde dem Fickel langsam ziemlich unangenehm. Schließlich liest man in den Zeitungen ja gar nicht so selten von bizarren Übergriffen auf alte Damen – und wer würde sich dieses abscheulichen Verbrechens schon freiwillig verdächtig machen? Aber da kam bereits eine circa fünfunddreißigjährige Pflegerin herbeigeeilt. Der Fickel setzte zu einer Erklärung an: »Äh, tut mir leid … ich
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