Herrgottschrofen
Unmenge an Ordnern ein halber Meter Bücher, deren Rücken Belletristik verhießen.
»Schon.«
Albert Frey stand auf und zog einen Band heraus. »Simmel. ›Niemand ist eine Insel‹. Glaubt man hier herinnen gar nicht, gell, Frau Mauereder?«
»Was?«
»Schon gut, Frau Mauereder.« Frey schob das Buch zurück ins Regal und nahm ein anderes. »›Die Unendliche Geschichte‹. Ja ja, der Michael Ende. Zweiterfolgreichster Garmischer Schriftsteller.«
Da geschah es. Frau Mauereder schien verstört. »Wieso? Der hat doch auch Jim Knopf und so …«
»Aber so viel geschrieben und verkauft wie Rolf Kalmuczak hat niemand, liebe Frau Mauereder.«
»Wer?«
»Kalmuczak. Aber Sie kennen eher eines seiner hundert Pseudonyme. Stefan Wolf zum Beispiel. ›TKKG‹, schon mal gehört?«
»Lesen meine Buben.«
»Wie Millionen andere auch. Vierzehn Millionen Bücher und dreißig Millionen Tonträger. Nur ›TKKG‹.«
»Aha.«
»Leider viel zu früh gestorben, der Mann. Wie dieser hier auch.« Frey stellte das Buch des bekanntesten Garmisch-Partenkirchner Schriftstellers Michael Ende wieder ins Regal.
Dabei stieß er drei am Rand stehende Bände um, die aus dem Regal und zu Boden fielen. Frey bückte sich, um die Bücher aufzuheben. Eines war unter den Aktenschrank gerutscht, der neben dem Regal stand.
Albert Frey ging auf die Knie, um unter den Schrank zu sehen. Er fingerte im Staub herum, zog das Buch heraus. Und stutzte.
Unter dem Büromöbel, ganz hinten an der Wand, stand eine kleine Schachtel. Er erreichte sie gerade noch mit den Fingerspitzen und schob sie in eine Position, in der er sie greifen konnte. Zum Vorschein kam ein verdreckter und verstaubter kleiner Karteikasten, dessen Plastik einmal beigefarben gewesen sein könnte.
Albert Frey blies die Staubflocken vom Deckel und öffnete das Kästchen. Darin befanden sich Mikrofiches. Er nahm einen davon heraus und hielt ihn gegen das Fenster, um zu erkennen, was sich auf den Negativfilmen befand.
Sein Herz machte einen Sprung, als er das Querformat von Karteikarten erkannte. Sie waren auf das halbe Format einer Briefmarke verkleinert, daher konnte er nichts lesen.
»Frau Mauereder, ein Lesegerät für diese Mikrofiches, gibt’s das irgendwo?«
»Müssens den Ali fragen. Der weiß alles.«
»Mach ich. Wo find ich den?«
»Irgendwo im Haus. Ich kann ihn anpiepsen.«
»Das wäre großartig, weil …«
In diesem Moment wurde die Türe zum Bürgermeisterbüro geöffnet, und ein gut gelaunter Hans Wilhelm Meier trat heraus. »Ah, unser Gemeindehistoriker, hervorragend. Sie kommen wie gerufen, Herr Frey. Unsere Festschrift, über die wollten wir mit Ihnen sprechen. Kommens doch bitte rein.«
Dr. Dorothee Allgäuer hielt es kaum noch in ihrem Institut aus. Mittags musste sie raus. Mit den Kollegen zusammen in der Kantine der Unikliniken zu essen, wäre für sie unerträglich gewesen. Und für die Kollegen sicher auch, dachte sie. Denn die Veränderungen in ihrem Team waren ja durchaus ihr anzulasten. Nur dass sie sich dennoch unschuldig fühlte.
Ja, sie hatte mit diesem Mann aus den Bergen geschlafen. Aber sie war es doch nicht, die – wenn es denn wirklich passiert war – einen Beweis gefälscht hatte. Und das war das Schlimmste: dass niemand über das sprach, was angeblich passiert war oder auch nicht. Das Thema wurde ausgeklammert, überall herrschte nur noch eisiges Schweigen.
Sie konzentrierte sich auf ihre Arbeit, sezierte Leichen und fertigte Gutachten an. Und dann nichts wie raus.
An diesem Maitag, an dem sich der Sommer das erste Mal blicken ließ, nutzte sie die Pause, um sich im Segafredo am Rindermarkt die ganze Angelegenheit noch einmal durch den Kopf gehen zu lassen. Wieder einmal. Sie setzte sich auf einen der Plätze draußen und schaute dem Treiben auf der Kreuzung vor dem Stadtmuseum zu. Wie die Leute vor die Autos sprangen, weil sie meinten, ein Zebrastreifen machte sie unverwundbar. Wie sich Autofahrer gegenseitig die Vorfahrt nahmen. Wie Radlfahrer zwischen den Fußgängern, Autos und Lastern riskant umhersausten.
Immer wieder stellte sie sich die eine Frage: Wollte sie am Institut weiterarbeiten? Sollte sie etwas ganz anderes machen? Ein Café eröffnen? Ein weiteres, richtiges Buch schreiben? Bücher von Gerichtsmedizinern gingen gut. Drehbücher über Gerichtsmediziner auch. Oder war der Zug schon wieder abgefahren? Sie musste sich da mal mit jemandem unterhalten, der Ahnung hatte.
Aber eigentlich war sie mit Leib und Seele
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