Herrgottschrofen
Medizinerin, Forscherin. Sie wollte direkt mit der Materie arbeiten, mit der sie sich auskannte, und nicht darüber schreiben. In ihrem Fall war diese Materie tote Materie. Doch sie liebte diesen Job. Sie hatte mitgeholfen, Verbrechen aufzuklären, die ohne sie gar nicht als solche erkannt worden wären. Sie hatte das Institut geliebt. Ihren Chef geschätzt, bewundert.
Sollte sie die Stadt wechseln? Gute Pathologen und Rechtsmediziner wurden auch in Hannover gebraucht. Oder in Berlin. Sie schaute in den mit zarten weißen Wolkenbändern durchsetzten hellblauen Münchner Himmel. Hier weggehen?
Sie bestellte noch einen Espresso. Und dachte alles erneut von vorn durch. Aushalten? Bis der neue Chef kam? Aufhören? Das Institut wechseln? Sie fand keine Antwort. Mit wem sollte sie reden? Der Mann, der ihr bisher am besten gefallen hatte, auch im angezogenen Zustand, saß in U-Haft. Die Eltern hätten gesagt: »Kind, mach weiter, es geht vorbei.« Außerdem konnte sie ihrer Mutter oder dem Vater diese Mülleimer-Geschichte nicht zumuten. Wäre sie nicht Ärztin geworden, würden ihre Eltern immer noch davon ausgehen, dass sie an den Storch glaubte. Die waren aus einer anderen Zeit. Wahrscheinlich hatten die sich nur einmal im Leben gegenseitig nackt gesehen, und das war bei ihrer Zeugung gewesen. Wenn sie da das Licht nicht ausgemacht hatten.
Aber sie musste mit jemandem drüber sprechen. Mit Albert Frey, dem lustigen Kauz aus Garmisch, der so etwas Väterliches an sich hatte? Gute Idee, dem war sicher nichts Menschliches fremd. Ehemaliger Lehrer. Der hatte sich die Sorgen ganzer Schülergenerationen angehört. Genauso kam sie sich gerade vor. Wie eine Schülerin in der neunten Klasse, die etwas ausgefressen hatte und wusste, es würde sich wieder richten, wenn sie es nur endlich beichtete. Der nur der Mut dazu fehlte.
Fehlender Mut war aber nicht wirklich ihr Problem. Sie hatte einfach nichts zu beichten. Sie hatte nichts getan. Dennoch ließen alle ihre schlechte Stimmung an ihr aus.
Okay, also Frey. Aber würde der so schnell nach München kommen? Nur um sich ihr Geheule anzutun? Sie hatte ihm ja keine neuen Informationen zu bieten. Trotzdem wollte sie es versuchen.
Vielleicht sollte sie nach Garmisch fahren. Eigentlich war das gar keine schlechte Idee. Ein paar Tage freinehmen, sich in einem der Wellnesshotels in der Elmau einnisten, sich den Rücken von einem begabten Masseur durchkneten und die Seele von Albert Frey massieren lassen. Hervorragend!
Sie legte einen Fünf-Euro-Schein auf den Tisch und marschierte zurück in Richtung Institut. Sie würde bei Professor Marchsteiner gleich einen Urlaubsantrag abgeben. Vielleicht konnte sie schon morgen dort draußen sein. Dienstags war im Kranzbach und im Schloss Elmau sicher nichts los. Die Cayenne-Fraktion fiel da am Wochenende ein. Und vielleicht war ja ein alleinstehender junger Mann auch auf ein paar Tage Entspannung aus …
Polizeihauptkommissar Ludwig Bernbacher war stolz auf sich. Das ganze Wochenende über hatte Jakob Neumann in seinem Auftrag Anton Brechtl überwacht. Und es war einiges an Berichtenswertem zusammengekommen. Das Highlight bildeten natürlich die Dreharbeiten für den »Naturfilm« im Baucontainer am Herrgottschrofen. Wie gut, dass der POM Neumann seinerseits auch einen Film aufgenommen hatte, mit seinem Handy. Sehr abgebrüht, der junge Kollege. Bernbacher hatte seinem Bürgermeister einen Augenzeugen plus Videomaterial zu bieten, das jederzeit bewies, dass der angesehene Bürger Brechtl einem äußerst delikaten Hobby frönte.
Dazu kamen seit Freitag diverse Vergehen des Herrn Brechtl gegen die Straßenverkehrsordnung, einschließlich zweier Trunkenheitsfahrten und inner- und außerörtlicher Geschwindigkeitsüberschreitungen. Auch die nächtliche Überprüfung eines Gutteils der Brechtl’schen Kieslasterflotte war vom Erfolg gekrönt. Mindestens die Hälfte der schweren Maschinen hatte abgefahrene Reifen, und bei dreien der zwanzig auf dem Betriebsgelände ab Freitagabend in Reih und Glied aufgestellten gelben Mammuts war der TÜV abgelaufen. Wenn man da einmal die Bremsen testen würde …
Zusätzlich zu diesen Verfehlungen, die den Bagger-Toni den Führerschein und Bußgelder in empfindlicher Höhe kosten konnten, lag eine Liste jener Personen, mit denen sich Anton Brechtl getroffen hatte, in dem unauffälligen grauen Aktendeckel, den Jakob Neumann vor dem Mittagessen auf Bernbachers Schreibtisch gelegt hatte.
Am Freitag war der
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