Herrgottschrofen
Karussell. Jo Saunders hatte sich bereits einen Dienstmann gesichert, der ihre Koffer aus der Samsonite-Flut retten sollte. Wenn diese endlich einmal losfließen würde. Doch noch standen die Bänder still.
Das gab Jo Saunders Gelegenheit, sich umzusehen und über diesen Flughafen zu staunen. Sie war viel herumgekommen in den letzten fünfzig Jahren, in den Staaten und auf der ganzen Welt, und sie war auch hin und wieder ein paar Tage in Deutschland gewesen, in den Siebzigern in Düsseldorf und Ende der Achtziger in Hamburg. Aber ihre Heimat Bayern hatte sie seit 1952 nicht mehr besucht. Wenn dieses Land so aussah, wie dieser Flughafen es andeutete, dann hatte sich viel verändert in den vergangenen sechzig Jahren, dachte sie.
Klar strukturiert, durchsichtig, effizient. So gab sich der Airport und wirkte damit so völlig anders als das Bayern-Bild, das das Klischee von den Deutschen auf der ganzen Welt bestimmte – und das sie aus ihrer Jugend im Werdenfelser Land mit sich herumschleppte. Dieses Bild war geprägt von dimpfelnder Bierseligkeit, von bäuerlichem Dickschädeltum und jeden Fortschritt bremsendem Hamma-scho-immer-so-gmacht.
Endlich lief das Gepäckband an, und der Dienstmann hievte auf ihre Anweisung nach und nach die vier riesigen Koffer, darunter einen, der beinahe Schrankformat aufwies, auf den spiegelglattpolierten Granitboden. Vom Umfang seines Auftrages überrascht, musste er seine orangerote Spezialkarre herbeischaffen, die eigentlich für das Sperrgepäck vorgesehen war, sonst hätte er mindestens zwei, eher drei Gepäcktrolleys vor sich herschieben müssen. Jo Saunders war gewohnt, mit großer Garderobe zu reisen. Zudem wusste sie nicht, wie lange sie in der Heimat bleiben würde. Sie war gekommen, um mit der Vergangenheit abzuschließen. Da waren Tage und Wochen keine relevanten Recheneinheiten.
Direkt hinter der Glastüre, mitten unter den anderen Abholern, standen Albert Frey und Martin Bruckmayer. Das Pappschild »Garmisch-Partenkirchen«, das Frey sich vor den Bauch hielt, hätten sie sich sparen können. Jo Saunders, den keuchenden Dienstmann im Schlepp, kam direkt auf die beiden zu.
»Martin!«, sagte sie, als sie vor Martin Bruckmayer stehen blieb. Dann schauten sich die beiden eine gefühlte Ewigkeit lang an. »Sixty years. Als wenn es gestern gewesen wäre.« Endlich fielen sich die beiden Achtzigjährigen in die Arme.
Albert Frey stand verlegen daneben und drückte dem Dienstmann das Pappschild in die Hand.
»You must be Albert Frey. Sorry, mein Deutsch is a bissl eingerostet.« Jo Saunders lachte, nachdem sie sich die Tränen mit einem Taschentuch aus den Augenwinkeln getupft hatte. »Albert – ich darf Albert sagen? –, ich bin so dankbar, dass Sie mich überredet haben. I really appreciate it.«
»Wir haben dankbar zu sein, verehrte Frau Saunders.«
»Jo. Nennen Sie mich Jo, bitte. So habe ich die letzten sechzig Jahre geheißen. Ich denke nicht, dass ich mich da umgewöhnen kann.«
»Wollen wir?« Martin Bruckmayer nickte dem Dienstmann zu. »Ich stehe direkt vor der Tür. Gott sei Dank habe ich das große Auto dabei.«
Mit Müh und Not fand das Gepäck in Bruckmayers Mercedes-Geländewagen Platz. Der Dienstmann erhielt ein fürstliches Trinkgeld, dann rauschte das Trio mit Jo Saunders auf dem Beifahrersitz in Richtung Süden.
Jo Saunders blickte fassungslos aus dem Fenster. »Euch Deutschen geht es wohl wirklich so gut, wie man es in der Zeitung lesen kann. BMW, Mercedes, Porsche all over the place. The U.S. are second world compared to you.« Als sie an der Fußballarena im Münchner Norden vorbeirollten, fragte sie: »Fahren wir durch die Stadt? Ich würde so gern die Frauentürme ansehen.«
Martin Bruckmayer gehorchte. Auch wenn der innerstädtische Münchner Verkehr für einen Garmisch-Partenkirchner eine Zumutung war. Aber er war während seiner Karriere im holländischen Bierkonzern durch schlimmere Städte gekommen. Einige Jahre hatte er in Tokio gearbeitet und fast ein Jahrzehnt in Rio de Janeiro verbracht. Dagegen waren deutsche Großstädte verschnarchte Dörfer.
Hartinger hatte fast alles bekommen, was er wollte. An diesem Dienstagvormittag durfte er zuerst eine Stunde in die Muckibude der Justizvollzugsanstalt München-Stadelheim und dann, nach dem Mittagessen, den ganzen Nachmittag in der Bibliothek verbringen. Doch die Benutzung eines eigenen Computers war ihm vorerst nicht erlaubt worden, und man gestattete ihm auch keinen Internetzugang. Den gab
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