Herrmann, Elisabeth
würde nie erfahren, was wirklich geschehen
war. Alle Zeugen waren tot. Und die Mikrofilme, falls es sie jemals gegeben
hatte, waren wieder im Urschlamm der Geschichte verschwunden. Es hatte nichts
gebracht, gar nichts.
Nur dieses neue, unbekannte Gefühl. Eine Art Sehnsucht, Fernweh
vergleichbar. Gab es das? Fernweh nach Menschen, die längst verschwunden waren?
Sie sah nach oben und war überrascht, die Sterne so nah zu sehen. Das Meer war
der dark Spot schlechthin. Sie fand Kassiopeia, aber der Polarstern war hinter einer
Wolke verschwunden. Sie versuchte, sich an die Legende des Sternbildes zu
erinnern. Kassiopeia hatte die Götter erzürnt, zur Strafe musste sie ihre
Tochter opfern.
Sie zog an der Zigarette und beobachtete Kaiserley hinter der
salzwasserverschmierten Scheibe. Er schien die Ruhe selbst zu sein. Der Sage
nach wurde Andromeda an einen Fels geschmiedet. Sie war verloren. Ein Held
namens Perseus rettete sie. Als ob Kaiserley spüren würde, dass sie ihn ansah,
wendete er den Kopf. Ihre Blicke trafen sich. Sie schaute schnell weg.
Bei Kaiserley an Perseus denken. Lächerlich. Das mussten die letzten Tage
sein und diese plötzliche, aufgezwungene Nähe. Sie war das nicht gewohnt. Sie
konnte das nicht. Sie hatte es versucht, mehrmals, weil sie sich gesagt hatte,
dass zu einem normalen Leben auch eine normale Beziehung gehörte. Aber es war
zu wenig, es nur deshalb zu wollen. Sie kam mit Nähe nicht klar. Oder mit dem,
was man sich im Allgemeinen darunter vorstellte.
Eine mächtige Welle rollte unter das Schiff und hob es hoch. Der Bug
zerteilte das Wasser, das schäumend und spritzend über die Bordwand schwappte.
Sie fröstelte, aber das Zähneklappern hatte aufgehört. Ihre Körperfunktionen
schalteten langsam von Rot auf Gelb.
Er konnte doch nicht wirklich glauben, dass sie die falsche Irene
Sonnenberg umgebracht hatte. Sie zwang sich, noch einmal in Gedanken durch die
Wohnung zu gehen, und erinnerte sich an Chaos, aufgerissene Schubladen und
verstreute Kleidungsstücke. Es war wie das Bühnenbild zu einem Stück namens
Beschaffungskriminalität. Wer wusste von ihrer Sucht? Wer hatte Zugang zu ihrer
Vergangenheit?
Der Wind drückte eine ölige Wolke warmen Dieselgestank herab. Der Geruch
erinnerte sie an Sassnitz, die Stadt, die ihre Vergangenheit genauso verloren
hatte wie sie die ihre. Das Schiff verlangsamte die Fahrt, der Motor verfiel in
ein leises Tuckern. Sie näherten sich der Prorer Wiek. Judith hangelte sich an
den Aufbauten entlang nach vorne. Der Mond schien hell durch zerrissene Wolken,
und sie konnte die dunkle Silhouette der Kreidefelsen erkennen. Hinter den
schwarzen Wäldern tauchten die ersten Lichter der Straßenlaternen auf. Sie
schimmerten wie zarte Perlenketten.
Das Schiff hielt direkt auf den alten Hafen zu. Judith fragte sich, ob die
Infrastruktur für das Anlegen eines so großen Schiffes überhaupt noch
vorhanden war. Der kleine Kapitän scherte sich nicht viel darum. Er fuhr, so
nahe es ging, an das äußere Ende des alten Hafenbeckens. Die Kaimauer war immer
noch über einen Meter weit entfernt. Der Leichtmatrose stand auf der Schanzung
und brüllte Kommandos nach oben. Die Maschinen arbeiteten auf Hochtouren.
Jemand stand plötzlich neben ihr.
»Sie müssen springen!«
Kaiserley stieg über die Reling, stieß sich ab und landete leichtfüßig am
Ufer. Er drehte sich um und streckte Judith die Hände entgegen. »Los!«
Sie stand an der Reling und klammerte sich fest. »Es ist ganz einfach!
Judith!«
Der Leichtmatrose machte eine Handbewegung, die auf der ganzen Welt
verstanden wurde und so viel bedeutete wie: Mach, dass du vom Acker kommst.
Der Motor heulte, das Schiff bäumte sich auf. Judith schwang sich über das
Geländer. Die Bordwand neigte sich langsam Richtung Ufer.
»Jetzt!«, schrie Kaiserley.
Sie sprang. Er fing sie auf und ließ sie so plötzlich los, dass sie
taumelte und beinahe doch noch ins Wasser gefallen wäre. Das Schiff drehte ab.
Der Boden schwankte unter ihren Füßen, aber es war auszuhalten.
Auf der anderen Seite der Mole sprengten Wellenbrecher die Kraft des
Meeres. Wassermassen peitschten mit einem lauten Knall gegen die Steine. Es war
kälter hier, rauer als in Schweden. Sie liefen los, auf das Ufer zu, an dem ein
hohes Gebäude stand. Es sah aus wie ein riesiger, schwarzer Dominostein mit
einigen hell leuchtenden Fenstern. Das Rügen Hotel. Sie erreichten die Auffahrt
beinahe gleichzeitig. Keuchend blieb Judith stehen. Im
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