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Herrn Zetts Betrachtungen, oder Brosamen, die er fallen ließ, aufgelesen von seinen Zuhörern (German Edition)

Herrn Zetts Betrachtungen, oder Brosamen, die er fallen ließ, aufgelesen von seinen Zuhörern (German Edition)

Titel: Herrn Zetts Betrachtungen, oder Brosamen, die er fallen ließ, aufgelesen von seinen Zuhörern (German Edition)
Autoren: Hans Magnus Enzensberger
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fragte der Abiturient, der wie immer in der ersten Reihe saß. »Wenn Sie mich fragen, kommt das daher, daß Sie zu wenig gehen.«
    Z. ließ sich das nicht zweimal sagen und verließ uns.

196 Erst nach einer Stunde und einem halben Liter Mineralwasser kam er wieder, erfrischt von seiner Wanderung. Sofort begann er zu berichten, was ihm unterwegs eingefallen war.
    »Eigensinn, Nachsicht und Melancholie, das sind liebe alte Gewohnheiten. Selten genug stolpert man über sie; dann rafft man sich auf, ist erleichtert und überläßt sich von neuem dem ewigen Auf und Ab, von dem Montaigne in seinem Kapitel über die Reue spricht. Alle Dinge, heißt es dort, schaukelten ohne Unterlaß, die Erde, die Felsen des Kaukasus, die ägyptischen Pyramiden. Sogar die Beständigkeit sei nichts weiter als ein zauderndes Schwanken.«

197 »Ihre Gemütsruhe geht mir ebenso auf die Nerven wie Ihr Pessimismus«, warf der Zuhörer ein, den wir immer nur den Soziologen nannten. »Entscheiden Sie sich für das eine oder für das andere! Ich für meinen Teil sehe darin einen Widerspruch.«
    »Daß Sie meine Ruhe stören wollen, ist verdienstvoll. Was aber den Weltuntergang angeht, auf den sich schon so mancher zu früh gefreut hat, so bin ich für ihn nicht zuständig.«

198 »Fragen Sie sich lieber, warum wir alle Zeit genug haben, um am hellichten Nachmittag im Park zu verweilen. Vorhin im Biergarten sah es mir nicht danach aus, als wären es nur Touristen und Rentner gewesen, die dort unter den Sonnenschirmen saßen. Und wenn Sie in die Innenstadt gehen, werden Sie bemerken, daß das Geschäft der teuren Bars und der billigen Imbißbuden blüht. Wer sind diese Kunden? Schauspieleram spielfreien Tag, Penner, Schulschwänzer, Models, Berufsverbrecher, die sich eine Auszeit gönnen? Ich glaube kaum. Nur eines haben sie gemeinsam: Keiner von ihnen scheint darauf versessen zu sein, das Bruttosozialprodukt zu steigern.
    Ich meine das nicht tadelnd, ganz im Gegenteil. Die Lohnsklaverei gehört nicht zu meinen Idealen. Dagegen bin ich immer bereit, für die Kunst des Trödelns einzutreten. Vielleicht ist die Vollbeschäftigung, nach der die Ökonomen gieren, gar nicht wünschenswert?«

199 »Darf ich eine indiskrete Frage stellen? Ich wüßte gern, ob sich ein Arbeiter unter uns befindet. Ein Industriearbeiter zum Beispiel.«
    Der Philosophiestudent hob die Hand. »In den Semesterferien«, sagte er, »habe ich ein paarmal in einer Zigarettenfabrik gearbeitet, weil ich Geld brauchte.«
    »Ein sehr vernünftiger Grund. Sonst niemand? Dann sieht es ganz danach aus, daß wir hier von einer Diktatur des Proletariatsweit entfernt sind. Nicht als wäre die Arbeiterklasse unsichtbar. Jeder Passant kann sie am deutlichsten auf Baustellen beobachten, schon wegen der zahllosen Schilder und Absperrgitter und wegen des Lärms, den sie verursachen. Auch fallen die Werktätigen gelegentlich durch Streiks und durch die Trillerpfeifen auf, mit denen die Gewerkschaften sie versorgen.
    Aber sonst? Gar kein Vergleich zu früheren Zeiten. Die Produktion scheint sich hauptsächlich im Verborgenen abzuspielen. Das liegt wahrscheinlich an der Karriere der sogenannten Dienstleistungen. Hinter der enormen Zahl der Verkäuferinnen, der Vertreter, der Büroinsassen und der Fahrer bleibt die Schar derer, die irgend etwas herstellen, weit zurück, ähnlich wie die Arbeit der Bauern, die ebenfalls zu einer Minderheit geschrumpft sind. Angeblich beschäftigt die Landwirtschaft nur noch zwei Prozent der Berufstätigen. Das sind, wenn ich mich nicht irre, weniger als die vielen, die sich um die Finanztransaktionen, um dieReklame oder um den Verschleiß von Medienprodukten kümmern.«
    »Sie finden das eigenartig?«
    »Erklärungsbedürftig, ja. Zwar fällt den meisten von uns die extreme Unwahrscheinlichkeit eines solchen Zustandes nicht mehr auf. Aber sobald man anfängt, darüber nachzudenken, kommt er einem hochgradig labil vor. So wie die Tätigkeit eines Artisten, der einen haarsträubenden Balanceakt vorführt. Und wir, die wir hier im Park miteinander plaudern, stellen, wenigstens für ein paar Stunden, das abgebrühte Publikum der Veranstaltung.«
    Niemand fiel Z. ins Wort, um ihn zu widerlegen, am wenigsten die beiden alten Damen auf der Bank, deren Stricknadeln in der Sonne glitzerten.

200 Ein junges Paar wollte wissen, weshalb Z. ein Thema mied, von dem die meisten nicht genug kriegen konnten. »Sie meinen gewiß die Unterhaltungen, zu deren unfreiwilligen Zeugen
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