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Herrn Zetts Betrachtungen, oder Brosamen, die er fallen ließ, aufgelesen von seinen Zuhörern (German Edition)

Herrn Zetts Betrachtungen, oder Brosamen, die er fallen ließ, aufgelesen von seinen Zuhörern (German Edition)

Titel: Herrn Zetts Betrachtungen, oder Brosamen, die er fallen ließ, aufgelesen von seinen Zuhörern (German Edition)
Autoren: Hans Magnus Enzensberger
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sollten zumAugenarzt gehen; denn sie errichten Gebäude, an denen der menschliche Blick keinen Halt finden kann, und verwechseln den Eingang mit einem Mauseloch.«
    Es lag nahe zu vermuten, daß er selber das Pech hatte, in einem dieser übereinandergestapelten Container zu hausen, doch Herrn Z. nach seiner Adresse zu fragen wäre uns zudringlich erschienen.

181 » Que no haya novedad! Mit diesem Wunsch pflegte man sich im alten Spanien voneinander zu verabschieden. Das heißt: Hoffentlich gibt es nichts Neues.« Z. fragte sich und uns, ob die Spanier schon immer Böses ahnten, oder ob sie nur ihre Ruhe haben wollten.

182 An der landläufigen Rede vom Kapitalismus, erklärte Z., störe ihn der Singular. Das sei einer jener Portemanteau-Begriffe, denen es an Klarheit fehle. »Glaubt jemand, die Verhältnisse, die in Schweden und im Kongo, in Grönland und im Iran als normal gelten, ließen sich über einen Kamm scheren? Das ökonomische System, das damit gemeint ist, kann offenbar mit fast jedem politischen Regime leben: mit der Militärdiktatur, dem Nationalsozialismus, der Mafiaherrschaft, der kommunistischen Einheitspartei, der Apartheid, dem jüdischen und dem islamischen Staat ebenso wie
mit der parlamentarischen Demokratie. Was der Singular unter den Tisch fallen läßt, ist die proteische Verwandlungsfähigkeit dieser Wirtschaftsform, der sie ihr Überleben verdankt.«

183 »Unter den Schuldigen«, sagte Z., »die für die ewige Wiederkehr der Krisen haftbar gemacht werden, spielt die Figur des Spekulanten eine besonders beliebte Rolle. Aber was es mit diesem Bösewicht auf sich hat, wo er herstammt und welche Masken er trägt, das wird vielleicht manchen überraschen. Speculieren nämlich nannten die Mystiker des Mittelalters ›das bis zur Verzückung sich steigernde Versenken in religiöse Betrachtung‹. So steht es nicht nur bei Grimm. Alles vom lateinischen specere. S peculari bedeutet nichts anderes als ›ins Auge fassen, sich nach etwas umsehen‹.«
    »Das ist doch nichts weiter als Wortklauberei«, wandte der Ungeduldigste unter uns ein. »Von Verzückung kann an der Wall Street kaum die Rede sein.«
    »Aber Sie wissen doch, daß es zwischen der Theologie und dem Kapital mehr als eine Schnittstelle gibt! Warum gibt es Gläubiger und Schuldner, warum spricht die Notenbank von der Geldschöpfung, und woher kommt der Kredit? Das hat alles eher heiligmäßig angefangen, bis es mit einem semantischen Salto auf den Kopf gestellt wurde.
    Schon Luther war das Spekulieren verdächtig, weil davon in der Bibel nicht die Rede war. Bald verstand man darunter nur noch ein müßiges, windiges Spintisieren. Und schließlich waren die Kaufleute an der Reihe, die auf dem Sprung waren, Risiken einzugehen, und ihre Erfolgsaussichten berechnen wollten. Der brave Campe schlug in seinem Wörterbuch von 1801 vor, den Spekulanten zu verdeutschen und ihn fortan ›Handelsspäher‹ zu nennen.«
    »Statt auf die Sache selbst einzugehen, klammern Sie sich an die Geschichte der Wörter. Sie machen sich lustig über uns.«
    »Und Sie lachen mich aus. Doch ich bleibe dabei, daß die Wörter mehr sagen als die Politiker, die den Mund damit voll nehmen. Wer weiß schon, daß auch der Spiegel im Badezimmer aus der Antike kommt? Ein speculum zeigt immer nur, was der Fall ist, und genau dasselbe tut die Spekulation. Sie hält der Realität den Spiegel vor. Kein Wunder, daß sie mit ihren Ratings wenig Beifall findet.«

184 »Der Realität den Spiegel vorzuhalten, das sagt sich leicht; aber was genau wäre dann unter Realität zu verstehen?«
    »Eine sokratische Frage! Auf diese Weise hat der berühmte Alte in Athen seine Lieblingspartner ins Schwitzen gebracht. Ein Weiser war er wohl, vor allem aber ein ausgefuchster Trickster, vor dem man sich hüten mußte. ›Sage mir doch, mein Guter, warum die Menschen Menschen heißen! Weißt du es zu sagen?‹ – Was sollte der arme Hermogenes darauf antworten? – ›Woher sollte ich das wissen? Und wenn ich auch imstande wäre, es zu wissen, so überließe ich es lieber dir; denn du wirst die Antwort leichter finden als ich.‹
    Natürlich ließ der Alte nicht locker, sondern trieb sein Gegenüber so lange in die Ecke, bis der Arme sich nicht mehr wehren konnte. Er hätte selbstredend auch antworten können: ›Verehrter Meister, warum stellst du dich dümmer, als du bist? Du weißt doch so gut wie ich, was das Wort Mensch auf griechisch bedeutet. Alle wissen das. Wenn wir jedes Wort
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