Herrn Zetts Betrachtungen, oder Brosamen, die er fallen ließ, aufgelesen von seinen Zuhörern (German Edition)
Führungskraft wird sich ihrer annehmen.«
204 Die Kunst, öffentlich zu schweigen, beklagte Z., sei immer mehr in Mißkredit geraten. Den meisten genüge es nicht, eine Lippe zu riskieren; sie müßten dauernd das Maul aufreißen. Die Schar derer, welche die Kunst der Enthaltung beherrschten, werde immer kleiner.
»Eine Kunst, von der Sie nichts verstehen«, schrie ein vorlauter Zwölfjähriger, der eine lila Baseballkappe trug. Es war einer der Schüler aus dem nahe gelegenen Gymnasium, die sich manchmal nach der letzten Schulstunde im Park zusammenrotteten, um heimlich einen Joint zu rauchen. Ein mißmutiges Schweigen war Z.s einzige Antwort auf diesen Zwischenruf, der uns einleuchtete.
205 Bald darauf fiel ihm ein, uns vor einem Übermaß an Bildung zu warnen. Sie mache ebenso abhängig wie das Rauchen. Wer ihr lange genug gefrönt habe, dem falle es schwer, dieser Sucht zu entsagen. Die Gefahr der Überdosierung liege nahe, auch wenn das Opfer die Droge längst satt
habe.
»Glauben Sie mir, ich weiß, wovon ich rede! Soll ich mich in meinem fortgeschrittenen Alter als Gasthörer in die letzte Bank setzen, einen Chinesisch-Kurs belegen und allerhand Tests und Prüfungen absolvieren? Lebenslänglich lernen, wie kann man sichdieser Zumutung erwehren? Was würden Sie mir raten?«
»Um daran etwas zu ändern«, entgegnete ihm ein Unbekannter, der uns nie zuvor aufgefallen war, »ist es in Ihrem Fall zu spät. Mit der Bildung verhält es sich ähnlich wie mit der Unschuld. Es gibt kein Zurück zum unbeschriebenen Blatt. Zum guten Wilden werden Sie es nie mehr bringen. Damit sollten Sie sich abfinden.«
206 »Sonderbar, daß keiner von Ihnen die Ehe erwähnt hat. Die Monogamie«, sagte Z., »ist doch eine bemerkenswerte Erfindung, die jeder Wahrscheinlichkeit hohnspricht – viel interessanter und rätselhafter als der Ehebruch, mit dem sich schon viel zu viele Romane beschäftigt haben.«
207 »Wie Sie wissen, gibt es Schriftsteller, die sich selber kopieren, ohne es zu merken. Andere greifen zu bewährten Mitteln, um dieser Gefahr zu entgehen. Eines davon ist das Pseudonym. Es verschafft dem Autor nicht nur einen gewissen Schutz, sondernauch eine neue Identität. ›Das Alphabet gehört mir‹, soll Casanova gesagt haben, als man ihm den Vorwurf machte, er führe nicht seinen richtigen Namen.«
208 Als einer von uns die Frage nach dem Urheberrecht aufwarf, äußerte Z. achselzuckend, er persönlich habe damit keine Schwierigkeiten. »Wie Sie vielleicht bemerkt haben, kommen wir hier ohne Eintrittskarten aus. Auch ist es schön, daß man immer noch um ein Glas Wasser oder um Feuer bitten darf, ohne eine Kreditkarte vorzuzeigen. Was mich allerdings bekümmert, ist die Schäbigkeit der sogenannten Netzbewohner. Die Spießigkeit, die sie ihren Voreltern vorwerfen, haben sie längst verinnerlicht. Ohne es zu merken, reiben sie sich bei ihrer Schnäppchenjagd die Hände, finden sich überall ein, wo es etwas umsonst gibt, und finden ihren Geiz ausgesprochen geil.«
209 Neulich sei er, Z., zufällig auf eine Korrespondenz aus dem achtzehnten Jahrhundert gestoßen, in der sich der Verfasser über das geistige Eigentum äußerte. »Plagiats-Anschuldigungen«, hieß es dort, »traue ich nie; ich verachte sogar die Leute, die dergleichen vorbringen, und noch mehr ihre Sachwalter, die Blätterstoppler, die so etwas wiederholen. Ein reicher Mann soll sich nicht darüber beklagen, daß man ihm ein paar lumpige Taler gestohlen hat.« Klappern, schloß Z., gehöre zum Handwerk, Klauen auch.
210 Z. malte ein ∞ in die Luft und sagte: »Dieses schöne Zeichen kommt Ihnen sicherlich bekannt vor. Nicht nur auf Philosophen, Theologen und Mathematiker übt die Unendlichkeit eine unwiderstehliche Anziehungskraft aus; auch aufgeweckte Kinder trainieren ihre Phantasie an der Vorstellung, daß es etwas geben soll, was nie aufhört. Warum wohl ist es leichter, sich mit dem Infiniten anzufreunden, als mit der Endlichkeit? Weil die wenigsten Menschen es begrüßen, daß sie sterblich sind.«
211 Die Adoleszenz, erklärte Z., sei nicht beneidenswert. »Damit will ich nichts über die ›Jugend von heute‹ sagen. Sätze, die mit diesen drei Worten anfangen, verdienen es nicht, ernst genommen zu werden; denn der Vergleich mit älteren Jahrgängen fällt oft genug zu deren Ungunsten aus.
Man sollte sich deshalb eher an die generationsunabhängigen Verläufe halten. Jeder, der die fragliche Metamorphose hinter sich gebracht hat, weiß,
Weitere Kostenlose Bücher