Herz aus Eis
er wollte unbedingt noch etwas sagen. Wollte sie bitten, noch zu bleiben, ihn in die Bibliothek zu begleiten. Wahrscheinlich war sie müde, aber für ihn zogen sich die Nächte endlos dahin. Für ihn gab es keinen Unterschied mehr zwischen Tag und Nacht.
Er stand und klammerte sich am Tischrand fest. „Sind Sie müde?“, seine Stimme klang viel zu laut, viel zu brüsk.
„Ein wenig, ja“, gab sie zu.
Er nickte leicht. „Dann gute Nacht.“
Sie zögerte, und Kristian fragte sich, was sie jetzt wohl denken mochte. Erneut wünschte er sich, er könnte sie sehen. Er hatte das Talent besessen, aus den Gesichtern der anderen zu lesen, hatte sich immer auf seine Intuition verlassen können. Jetzt war ihm diese Gabe geraubt worden. Ohne seine Augenvertraute er nicht mehr auf seinen Instinkt.
„Gute Nacht“, wünschte sie ihm leise.
Er stand da, mit geneigtem Kopf, und hoffte, dass sie die Enttäuschung auf seinem Gesicht nicht erkannte. Nach einem Augenblick hörte er ihre Schritte. Langsam ließ er sich in den Rollstuhl zurücksinken.
Etwas in ihm brach. Wie war er nur so einsam geworden?
Er vermisste Andreas. Die beiden Brüder waren einander so nah gewesen. Er hätte Andreas zuerst zu Hilfe kommen sollen. Wenn er die Zeit doch nur zurückdrehen könnte! Wenn er seine Entscheidung nur rückgängig machen könnte!
Man traf ständig irgendwelche Entscheidungen im Leben und sah es als selbstverständlich an, selbst solche, die unter Druck getroffen wurden. Und dann kam die eine, die sich nicht mehr ändern ließ. Die eine, die einen Tag und Nacht verfolgte.
Langsam rollte Kristian sich vom Tisch zurück, noch langsamer fuhr er zur Bibliothek, zu dem Raum, in dem er seine gesamte Zeit verbrachte, wenn er nicht schlief. Vielleicht konnte Pano ihm das Radio anstellen. Oder ein Hörbuch einlegen. Irgendetwas, mit dem er seinen Geist beschäftigt und abgelenkt halten konnte.
Doch als er in der Bibliothek ankam, blieb er einfach mit dem Stuhl in der Nähe des Schreibtisches stehen. Er wollte kein Radio hören, auch keine Kassette. Er wollte einfach nur wieder er selbst sein. Er hasste die Person, zu der er geworden war.
„Kristian?“
Sofort setzte er sich gerader auf. „Ja?“
„Sind Sie in der Bibliothek?“
„Ja, ich bin hier.“
Die Tür wurde einen Spaltbreit geöffnet. „Es ist dunkel hier drinnen. Darf ich Licht einschalten?“, fragte Elizabeth zurückhaltend.
„Natürlich. Bitte. Ich weiß ja nicht …“
Er hörte ihre Schritte, hörte, wie sie in den Raum kam. „Eigentlichbin ich noch nicht müde. Ich dachte mir, ich könnte Ihnen vielleicht etwas vorlesen. Die Zeitung, die Post … oder aus Ihrem Lieblingsbuch?“
Kristian spürte, wie seine innere Anspannung nachließ. Erleichtert atmete er aus. „Ja, das wäre nett.“
7. KAPITEL
Dieser Abend markierte den Anfang einer Routine, der sie die nächsten zwei Wochen folgten. Tagsüber holte Kristian alles aus sich heraus und befolgte die Anweisungen der Therapeuten. Am Abend speisten Elizabeth und er zusammen, danach verbrachten sie eine oder zwei Stunden gemeinsam in der Bibliothek, und Elizabeth las ihm aus Zeitungen oder Büchern vor.
Kristians Fortschritte verblüfften Elizabeth. Wäre sie nicht selbst Zeuge geworden, hätte sie es nicht für möglich gehalten. Jeden Tag verbrachte er Stunden in dem zum Trainingsraum umgestalteten Esszimmer. Der Teppich war aufgerollt und die Möbel ausgeräumt worden, stattdessen lagen nun Matten auf dem Boden, und medizinische Trainingsgeräte waren aufgestellt worden. Haltegriffe und -stangen waren an den Wänden angebracht, und die hohen Fenster standen immer offen, um die frische Bergluft hereinzulassen.
Der Sporttherapeut war zwei Tage nach Elizabeth angekommen. Pirro stammte aus Sparta und hatte zugesagt, für die nächsten vier Wochen im Kloster zu wohnen und mit Kristian zu trainieren. Nur das Wochenende wollte er zu Hause bei Frau und Kindern verbringen.
Während der Woche trieb Kristian sich mit Pirros Unterstützung unbarmherzig an. Pirro war Trainer der griechischen Olympiamannschaft gewesen und hatte einige der berühmtesten Athleten während ihrer Rehazeit betreut. Kristian behandelte er ebenso wie einen Elitesportler.
Schon nach zwei Wochen ging Kristian auf dem Laufband. Elizabeth war immer überzeugt gewesen, dass Kristian wieder würde laufen können, sie hätte nur nie damit gerechnet, dass es schon nach vierzehn Tagen so weit sein würde.
Es war Freitag, als Elizabeth in den
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