Herz aus Glas (German Edition)
Verwirrt tastete ich über die Bettdecke, auf der ich lag. Wo war das Buch?
Mit einem Ruck setzte ich mich auf.
Ein greller Lichtblitz zuckte vor meinen Augen auf. Kurz schien der Raum in helles Licht getaucht. Alles rückte in unendliche Ferne und stürzte dann mit rasender Geschwindigkeit wieder auf mich ein. Einen Sekundenbruchteil später war ich erneut von tintenschwarzer Dunkelheit umgeben. Nur ein paar regenbogenfarbene Flecken tanzten vor meinen weit aufgerissenen Augen.
Mein Herz hämmerte schmerzhaft.
War da jemand im Zimmer? Der Lichtblitz war nur kurz gewesen, aber je länger ich darüber nachdachte, umso sicherer war ich mir, einen menschlichen Umriss gesehen zu haben, der an der Balkontür stand.
Eisige Panik lähmte meinen Körper. Ich presste beide Hände auf den Magen.
»Ist da wer?«, hauchte ich. Das Blut rauschte in meinen Ohren, sodass ich meine eigene Stimme kaum hören konnte.
Ich erhielt keine Antwort.
Mit zitternder Hand tastete ich nach dem Schalter der Nachtschranklampe, stieß gegen etwas Hartes, das leise klirrte. Das Milchglas. Ich tastete weiter, meine Augen waren so weit aufgerissen, wie es nur ging.
»David?«
Ich wusste nicht genau, ob ich hoffte, dass er es war, der dort stand, oder ob ich es eher fürchtete.
Keine Antwort.
Meine Fingerspitzen stießen auf den Lichtschalter, ich zögerte, aber dann fasste ich mir ein Herz und knipste ihn an. Anheimelnd gelblicher Schein erfüllte das gesamte Schlafzimmer, fiel auf das Bett, den Schrank, die Vorhänge.
An der Balkontür stand – niemand.
Ich war allein.
Mit jagendem Herzen ließ ich die angehaltene Luft aus meinen Lungen entweichen. Ich blinzelte und die flirrenden Farben, die ich im Dunkeln auch schon gesehen hatte, kehrten zurück. Feuerräder drehten sich vor meinen Augen, das neblige Gefühl war mit einem Mal wieder da. Und auch die Übelkeit.
»Was …«, murmelte ich und verstummte, weil es mich würgte.
Langsam schwang ich die Beine aus dem Bett. Ich blieb auf der Bettkante sitzen, doch dann trieb mich etwas mit unnachgiebiger Kraft auf die Beine. Wie magisch wurde ich von der Balkontür angezogen. Auf nackten Füßen tappte ich quer durch den Raum. Wie ferngesteuert streckte sich meine Hand nach dem Türgriff aus. Dann schwang die Tür auf. Ein eiskalter, prickelnder Regenguss wehte ins Zimmer, der mein T-Shirt auf der Stelle durchnässte. Die Tropfen brannten auf der Haut wie winzige Dolchstiche.
Trotzdem trat ich nach draußen auf den Balkon.
Eisig prasselten Regen und Hagel auf mich nieder, aber noch immer zog mich etwas unnachgiebig voran. Ich trat an das Geländer. In der Ferne donnerte die Brandung an die Klippen von Gay Head.
Eine tiefe, furchtbare Sehnsucht keimte in meinem Herzen.
Halt dich fest!, kreischte eine mahnende Stimme in meinem Hinterkopf und mit Mühe schaffte ich es, ihr zu gehorchen.
Meine Lider fühlten sich bleischwer an. Nebel tanzten vor meinen Augen und ich glaubte zu sehen, dass die Welt sich in eine Märchenlandschaft verwandelt hatte. Bäume, Büsche, die Bänke und Laternen unten auf dem Rasen: Alles war mit einer schimmernden Schicht aus Glas überzogen, in der sich das Licht aus meinem Schlafzimmer funkelnd brach.
Ich legte den Kopf schief und dann hörte ich eine leise Stimme. Sie war gleichzeitig ganz nah und unendlich weit entfernt und sie klang furchtbar traurig. Sie flüsterte nur ein einziges Wort:
»Juli!«
»Juli, um Himmels willen!«
Ich wurde gepackt und mit brutaler Wucht nach hinten gerissen. Ein Schrei löste sich aus meiner Kehle, stieg in den finsteren Nachthimmel, wo der heulende Wind ihn verschluckte. Das Donnern der Brandung war unendlich laut in meinen Ohren. Meine Füße brannten wie Feuer und auch die Haut an meinem gesamten Körper. Glühende Nadeln pikten mich in Schultern, Rücken und Kopfhaut. Ich spürte, wie ich von jemandem in die Arme gezogen wurde. Da war ein Zittern und es kam nicht von mir, es kam von dem anderen.
»Was machst du denn? Oh Gott, was machst du?« Fassungslos klang die Stimme und jetzt erkannte ich sie.
»David!« Meine Zunge war schwer wie Blei.
»Ja!«, rief er und drückte mich noch fester an sich. »Ja, verdammt!«
Endlich schaffte ich es, den Kopf zu heben. David war wirklich da. Das war das Erste, was ich begriff. Und er weinte. Es war nicht der eisige Regen, der ihm über die Wangen lief, das sah ich an seinen Augen. Es waren Tränen. Richtige, echte Tränen!
»Du weinst!« Es kam mir vor wie ein Wunder.
Er
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