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Herz aus Glas (German Edition)

Herz aus Glas (German Edition)

Titel: Herz aus Glas (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Lange
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lachte unter Tränen und in diesem Augenblick hämmerten mehrere Erkenntnisse gleichzeitig in meinen Verstand. Er lachte vor Erleichterung. Er lachte meinetwegen. Und er hatte Angst um mich gehabt.
    Angst? Warum?
    Das Donnern der Brandung. Warum ist es auf einmal so laut?
    Und dann begriff ich, was geschehen war. Vor Entsetzen wurden meine Knie ganz weich. David musste mich auffangen.
    »Hey!«, sagte er erschrocken, hielt mich aber sicher.
    Sein Gesicht schwebte riesengroß und verschwommen vor mir. Das Einzige, was ich in diesem Augenblick empfand, war grenzenloses Entsetzen.
    Ich stand am Rand der Gay-Head-Klippen!
    »Ja«, sagte er völlig heiser. »Du wolltest wirklich springen!«
    »Komm!« Sanft führte er mich von der Kante weg, bis wir festen Grund erreicht hatten. »Scheiße, Juli!« Er stöhnte die Worte. »Um ein Haar wärest du gesprungen!«
    »Wie …« Ich fasste mir an die Lippen, weil ich sie nicht spüren konnte. Ich spürte meinen ganzen Körper überhaupt nicht, da war nur dieses Entsetzen, das mich ausfüllte wie flüssige Bronze, die man in die leere Form meines Körpers gegossen hatte. »Wie bin ich hierhergekommen?«
    David ließ sich auf einen Findling fallen und zog mich neben sich. Er lachte und weinte noch immer gleichzeitig. »Wie du … Du bist gelaufen, Juli! Den ganzen Weg hierher bist du gelaufen. Ohne Schuhe!«
    Ich schaute an mir hinunter. Ich trug nur meine Jogginghose, durch die ich den Findling eisig kalt unter mir spürte, und das dünne T-Shirt, das völlig durchnässt an meinem Leib klebte. Meine Füße waren nackt und schmutzig und sie bluteten an mehreren Stellen. Kein Wunder, dass sie wehtaten!
    »Ich kann mich an überhaupt nichts erinnern.« Das Letzte, was ich noch wusste, war, wie ich auf dem Balkon gestanden hatte. Ich musste mein Appartement verlassen haben und den ganzen Weg von Sorrow bis hierher auf die Klippen gelaufen sein, ohne etwas davon mitzubekommen. Der Nebel in meinem Kopf lichtete sich jetzt langsam und ich schaute in Davids Gesicht, um mich an dem Anblick festzuhalten.
    »Sieht so aus, als hätte der Fluch mich jetzt doch erwischt, was?«, murmelte ich noch immer wie betäubt.
    David ächzte gequält. »Gott, Juli!« Dann packte er mein Gesicht und küsste mich. Er küsste mich mit solcher Heftigkeit, dass ich sein ganzes Entsetzen auf meinen Lippen schmecken konnte. Ich wäre beinahe gesprungen, hatte er gesagt. In meinem Kopf vollführten die Gedanken einen irren Tanz. Was geschah nur mit mir? Wurde ich verrückt? Vermutlich. Jedenfalls schien es die einzige Erklärung zu sein. Ich wurde verrückt und die Welt um mich herum hatte sich in ein gläsernes Märchenreich verwandelt, durch das mein wahnsinniger Verstand taumelte. Vielleicht war ja gar nicht Madeleine der Geist, sondern ich …
    All diese Dinge schossen mir in den Sekunden durch den Kopf, in denen David mich küsste. Als er wieder von mir abließ, waren seine Tränen versiegt. Erleichterung hatte den Ausdruck von Entsetzen aus seinen Augen vertrieben.
    »Ich dachte, ich hätte dich verloren …« Mit beiden Händen fuhr er sich in die Haare.
    Ich legte meine Fingerspitzen gegen seine nasse Wange. Der Wind heulte um uns herum und schlug mir Regen und Eiskörner gegen den Rücken. Erst in diesem Augenblick nahm ich die Umgebung wieder vollständig wahr. Der Glaspanzer: Ich hatte ihn mir nicht eingebildet!
    Die Welt ringsherum hatte sich tatsächlich in eine dicke, glitzernde Rüstung gehüllt. Bäume, Felsen, Ginster, Heidekraut – alles war überzogen mit einer Schicht aus Eis. Die landeinwärts gerichteten Äste der Bäume hatten sich in starre Zacken verwandelt, die wie Speerspitzen alle in dieselbe Richtung zeigten. Die Ginsterbüsche wirkten wie filigrane Gebilde aus Kristall. Die Heide duckte sich unter der kalten Schicht.
    Selbst der Findling unter uns war bedeckt mit Eis. Ich ließ meine Finger über die Kruste gleiten. Sie war mindestens drei oder vier Zentimeter dick. Während ich wie hypnotisiert durch die Landschaft gerannt war, hatte der angekündigte Eissturm die Insel erreicht.
    David führte mich durch den Sturm zurück zum Herrenhaus, und als auf halber Strecke meine Beine nachgaben, hob er mich kurzerhand auf die Arme und trug mich.
    »Ich bin viel zu schwer!«, protestierte ich matt.
    »Halt den Mund, Juli!« Er klang wie betrunken – betrunken vor Erleichterung, dass ich noch am Leben war.
    »Ich kann alleine laufen!« Aber wie um mir zu beweisen, dass es nicht so war,

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