Herz aus Glas (German Edition)
du jetzt vor?«
Ich nahm die Serviette von meinem Schoß. »Ich weiß es noch nicht«, gestand ich.
Als Taylor weg war, ging ich in mein Appartement, um mich ein wenig auszuruhen.
Ich schlief eine gute Stunde, aber ich träumte so wirres Zeug, dass ich völlig orientierungslos aufwachte und eine Weile brauchte, bis ich wieder wusste, wo ich mich befand. Noch etwas benommen stopfte ich mir das Kissen in den Rücken, sodass ich aufrecht sitzen konnte. Dann beugte ich mich zur Seite, zog die Schublade meines Nachtschränkchens auf und nahm Rebecca heraus. Ich schlug es auf und starrte auf Charlies in fliederfarbener Tinte geschriebenen Namen. Dann begann ich zu lesen.
Der Roman war ziemlich langatmig. Auf den ersten Seiten passierte nicht viel, außer dass geredet wurde. Aber trotzdem hatte die Geschichte auch etwas Faszinierendes. Die Art, wie die namenlose Erzählerin Maxim de Winter kennenlernte, sich in ihn verliebte und sich für seiner völlig unwürdig hielt, berührte mich, obwohl sie sehr altmodisch erzählt war. Als ich dann aber erfuhr, dass de Winter nicht über den Tod seiner verstorbenen Frau hinwegkam, ließ ich das Buch verblüfft sinken.
Was hatte Grace gesagt?
Madeleine sorgte dafür, dass ich Dinge fand … Ich klappte das Buch zu und starrte nachdenklich vor mich hin.
Wenn ich heute zurückdenke, schaudert es mich ein bisschen bei dem Gedanken, wie nah ich an diesem Nachmittag bereits der Lösung von Charlies Rätsel war. Hätte ich das Buch an diesem Tag bis zum Ende gelesen, hätte ich möglicherweise erkannt, wie sehr meine Situation auf Sorrow jener der namenlosen Erzählerin des Buches ähnelte. Aber ich las an diesem Nachmittag nur bis zum dritten Kapitel, dann siegte die Langeweile über die Faszination. Bevor ich das Buch wieder in die Schublade legte, blätterte ich die Seiten einmal schnell über meinen Daumen. An einer Seite blieb mein Blick hängen.
Waren das Unterstreichungen gewesen?
Ich blätterte zurück. Tatsächlich! Auf einer Seite, ziemlich weit hinten, hatte jemand einige Zeilen unterstrichen. Die Linien waren krakelig und wirkten etwas schludrig. Und sie waren mit fliederfarbener Tinte gemalt.
Unwillkürlich legte ich eine Hand an meine Kehle, weil mir das Atmen plötzlich schwerfiel. Dann überflog ich die gesamte Seite. Bei den unterstrichenen Zeilen schien es sich um ein Gespräch zwischen der Erzählerin und ihrem geliebten Maxim zu handeln.
Du dachtest, ich liebe Rebecca? Diesen Satz hatte Charlie unterstrichen. Und dann ein Stück weiter unten: Ich hasste sie, will ich dir sagen. Unsere Ehe war von Anfang an nur eine Farce.
Und noch ein Stück weiter unten: Rebecca war unfähig zu lieben. Zärtlichkeit und Anstand waren ihr fremd.
Und schließlich, ganz am Ende der Seite: Niemand, der sie kannte, hätte jemals etwas anderes gedacht, als dass sie eine große Dame und die Liebenswürdigkeit und Güte in Person sei.
Die fliederfarbenen Unterstreichungen flimmerten vor meinen Augen. Rachels Worte fielen mir ein: Charlie hatte das Buch loswerden wollen. Und sie hatte bedrückt gewirkt, als sie es ihr verkauft hatte. Lag der Grund für diese beiden Dinge in dem, was sie hier unterstrichen hatte? Ich starrte nachdenklich gegen die Wand am Fußende meines Bettes, dann blätterte ich das Buch noch einmal sorgfältiger durch. Es gab keine weiteren Markierungen.
Ich las die Sätze erneut, aber das machte mich nicht schlauer als vorher. Die eine Frage blieb bestehen: Warum waren diese Sätze Charlie so wichtig gewesen, dass sie sie unterstrichen hatte?
»Und, Juli? Was hast du heute so gemacht?« Die Frage, die Jason mir beim Abendessen stellte, klang unschuldig und ohne Hintergedanken, aber der Blick, den er seinem Sohn zuwarf, beinhaltete einen stummen Vorwurf. Jason war der Meinung, dass David sich zu wenig um mich kümmerte, und ließ ihn das so oft wie möglich spüren.
Ich sah erst in die Runde, bevor ich antwortete. Mein Vater saß mir gegenüber. Er wirkte erschöpft. Er arbeitete definitiv zu viel, das hatte ich ihm kurz vor dem Essen auch gesagt. Aber er hatte nur gemeint, er komme jetzt richtig gut voran und alles sei gut.
Wie schön für ihn!
Ich warf ihm einen genervten Blick zu und hoffte, dass er ihn richtig deutete. Er wirkte allerdings nur verwirrt.
Warum versuchte ich eigentlich immer wieder, etwas anderes als einen Höhlenmenschen aus ihm zu machen?
Taylor hingegen, die mich vorhin mit meiner schlechten Laune erlebt hatte, wusste, dass mein Tag
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