Herz aus Glas (German Edition)
immer klar und ich fragte mich, ob Taylor sich mit ihrer Vermutung, es würde Sturm geben, nicht doch geirrt hatte. Die Sonne stand als verschwommener hellgelber Ball über mir, schaffte es aber nicht, mich zu wärmen. Die Luft war erfüllt vom Geschrei der Möwen und dem Donnern der Brandung, das lauter wurde, je näher ich den Klippen kam.
Während ich ging, kam ich mir sonderbar allein auf der Welt vor. Ich versuchte, mich in die Lage der Ich-Erzählerin aus Rebecca zu versetzen. Wie mochte es sich anfühlen, reich zu sein und den ganzen Tag lang nichts anderes zu tun zu haben, als dem Personal Anweisungen zu geben? Es war ein Leben, das ich mir nur schwer vorstellen konnte. Ich langweilte mich ja jetzt schon, obwohl ich erst ein paar Tage hier zur Untätigkeit verdammt war. Als ich an der Weggabelung den Pfad einschlug, der zu den Klippen führte, entschied ich, dass das Leben als reiche Upperclass-Ehefrau nicht für mich infrage kam. Ich dachte an meine Freunde zu Hause in Boston und bedauerte kurz, dass ich heute an Silvester nicht bei ihnen sein konnte. Ich beschloss, Miley nachher anzuskypen, in der Hoffnung, dass sie ein bisschen Zeit für mich hatte. Das würde wenigstens eine Stunde totschlagen.
Seufzend umrundete ich die Gruppe dicker Findlinge und stand im nächsten Moment auf den Klippen. Der Wind schlug mir ins Gesicht wie eine Faust und das Donnern der Brandung war jetzt so laut, dass ich mein eigenes Wort nicht verstanden hätte. Vorsichtig trat ich näher an die Kante heran. Der Boden unter meinen Füßen gab etwas nach und fühlte sich weich an. Ein bedrohliches Knistern ertönte und rasch hüpfte ich zurück. Auf keinen Fall wollte ich Charlies Schicksal teilen!
Nachdenklich blickte ich über die weite graue Fläche des Ozeans hinweg nach Norden und fragte mich, was genau mich eigentlich hierher gezogen hatte. Der scharfe Wind hatte meine Kopfschmerzen nur noch verstärkt. Und dazu kam jetzt auch dieses fürchterliche, schwankende Gefühl wieder.
Vorsichtshalber wich ich noch ein paar Schritte zurück, bis ich mit dem Rücken fast an einem der Findlinge stand.
Das Meer brauste unter mir.
Eine ganze Weile stand ich einfach nur da, ließ meine Gedanken treiben. Und dann verspürte ich plötzlich den dringenden Wunsch, einen Blick in die Tiefe zu werfen. Was war es wohl für ein Anblick gewesen, den Charlie als letzten in ihrem Leben gehabt hatte? Ich war schon drauf und dran, wieder vorzutreten, als mir klar wurde, was ich vorhatte.
»Scheiße, Juli!«, schimpfte ich mit mir selbst. »Spinnst du jetzt total?«
In diesem Augenblick erinnerte ich mich, was Grace zu mir gesagt hatte, bevor sie mich mit in ihre Kammer genommen hatte.
Die Entscheidung, von den Klippen zu springen, lag nicht bei mir.
Sondern bei Madeleine.
Ein eisiger Knoten bildete sich in meinem Magen. Auf einmal hatte ich das Gefühl, nicht mehr allein auf der Klippe zu sein. Ich fuhr herum. Waren da Schritte gewesen?
»Ist da wer?« Meine Stimme hörte sich an, als sei ich plötzlich zwölf Jahre alt.
Der Wind jaulte und heulte und schien sich über mich lustig zu machen. Dann setzte er für einen Wimpernschlag aus und in dem kurzen Moment, in dem die Brandung ebenfalls schwieg, weil sie neuen Anlauf nehmen musste, hörte ich ein verzweifeltes Wispern.
»… Daaaviiid …«
Meine Hand zuckte zum Mund.
Der Wind setzte wieder ein, die nächste Welle warf sich mit einem Donnern gegen den Felsen weit unter mir. Ich stand wie erstarrt und versuchte, mir einzureden, dass ich mich getäuscht, dass ich kein unheimliches Wispern gehört hatte. Es dauerte einige Minuten, bis Wind und Brandung wieder genau zum gleichen Zeitpunkt schwiegen, und bis dahin raste mein Herz so sehr, dass mir die Rippen davon schmerzten.
Aber als mich der nächste Moment der Stille umgab, hörte ich nichts. Kein Wispern. Nichts. Nur tiefes, eisiges Schweigen.
Doch dann flüsterte die Stimme: »Du hast sie gestoßen, David!«
Ich wäre vor Schreck beinahe ohnmächtig geworden. Das konnte doch einfach nicht sein! Es gab keine Geister! Ich war mir hundertprozentig sicher, dass meine überreizte Fantasie mir nur einen Streich spielte. So musste es sein. Bei all den schrägen Dingen, die mir in den letzten Tagen passiert waren, war das die einzig plausible Erklärung.
Und doch wartete ich, bis Wind und Brandung ein drittes Mal schwiegen. Diesmal jedoch blieb es tatsächlich still.
Mechanisch wandte ich mich von der Klippe ab.
Und rannte zurück zum
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