Herz aus Glas (German Edition)
überhaupt zu registrieren.
David schüttelte abwehrend den Kopf.
»Warum nicht?«, mischte ich mich ein und hatte gleichzeitig das Gefühl, die Antwort längst kennen zu müssen.
Henry sah mich an, als könne er meine Gedanken lesen. »Ich habe es dir schon erzählt, erinnerst du dich nicht? Als wir unseren ersten Spaziergang gemacht haben.« Er wartete einen Moment, aber bevor ich mir alles ins Gedächtnis rufen konnte, was er mir damals erzählt hatte, sprach er schon weiter. Jetzt hatte er die Zähne zusammengebissen. »Weil in der Nacht, in der … es passiert ist, Sturmflut war. Das Meer reichte deswegen bis an den Fuß der Klippen. Es hat Charlie sofort mit sich gerissen.« Er hielt inne, schöpfte Kraft, bevor er fortfuhr: »Man hat ihre Leiche nie gefunden.«
»Ich hatte von Anfang an das Gefühl, dass da etwas nicht stimmt«, sagte eine Stimme hinter uns. Wir drehten uns um. Die Stimme gehörte Ricky. Sie musste in relativ kurzer Zeit ziemlich viel getrunken haben. Ihre Zunge stolperte über einige Vokale, aber trotzdem schaffte sie es, einigermaßen verständlich zu reden.
»Wovon sprichst du?«, fragte ich und David legte mir unwillkürlich eine Hand auf das Bein, um mich zu stoppen. Ich erschauderte, konzentrierte mich aber weiter auf Ricky. Sie machte nicht den Eindruck, als habe sie uns wirklich belauscht. Ihr benebelter Geist schien viel mehr um ihre eigenen Probleme zu kreisen.
»Von der Verlobung natürlich.« Sie nickte enthusiastisch. Mit der Zungenspitze fuhr sie über ihre Unterlippe. Ihre Haare waren jetzt noch zerzauster als vorhin und ich entdeckte ein paar Grashalme darin. Vermutlich war sie zwischenzeitlich mit einem der Jungs in den Dünen gewesen und hatte geknutscht.
»Du warst so komisch«, murmelte sie.
Crystal gesellte sich zu uns, aber ich achtete nicht weiter auf sie. Die Musik wechselte von House zu Hiphop. Auch nicht besser.
Davids Hand krampfte sich um meinen Oberschenkel. Ich richtete den Blick darauf, sodass ihm bewusst wurde, was er tat. Sofort zog er die Hand zurück. Bevor er sich entschuldigen konnte, hatte Ricky unseren Baumstamm umrundet und baute sich jetzt vor David auf. Mit ihrem langen Fingernagel tippte sie ihm vor die Brust. Ihre Bewegungen waren unkoordiniert und linkisch.
»Er!« Sie drehte den Kopf und fixierte mich. »Ganz düster hat er ausgesehen … bei der Verlobungsfeier … Aber das hat außer mir niemand gemerkt, glaube ich. Aber ist ja auch klar! Ein Mädchen merkt so was, wenn sie einen Kerl … liebt, oder?« Sie stolperte über das vorletzte Wort und bekam einen Schluckauf. »Huppsa!«, kicherte sie. »Wie peinlich!« Ich wusste nicht, ob sie ihr Benehmen meinte oder aber die Tatsache, dass sie eben verraten hatte, in David verliebt zu sein.
David atmete durch. Dann bedeckte er seine Augen mit der flachen Hand. Es war eine resignierte, schmerzliche Geste.
»So hat er damals auch gemacht, andauernd.« Ricky suchte irgendwo Halt und fand ihn bei mir. Schwer stützte sie sich auf meiner Schulter ab. Ich roch ihren Atem. Sie hatte inzwischen definitiv etwas anderes intus als nur Bier. Ich tippte auf Tequila. »Auf der Verlobungsparty, mein ich.« Sie kicherte albern. »Weißt du was? Ich glaube, dass er da schon geplant hat, sie von der Klippe zu stoßen!«
Crystal stieß ein entsetztes Kieksen aus.
Ich fuhr erschrocken in die Höhe. »Wie kannst du …?« Der Rest der Frage blieb mir im Halse stecken.
Ricky entfernte sich ein paar Schritte von mir. Mit ausgestrecktem Zeigefinger deutete sie auf David. »Gib's doch zu, du … du Scheißkerl!«, schrie sie. »Du hast sie runtergestoßen!« Sie schwankte ein wenig. Alle starrten sie an, einige erschrocken, andere schadenfroh. Jemand schaltete endlich diese furchtbare Musik aus und es wurde sehr still. Nur das Rauschen der Brandung war noch zu hören – und der Schrei einer Möwe, der klang wie das Lachen eines Verrückten.
In meinem Hinterkopf rumorte es. Die Anschuldigung, die Ricky eben geäußert hatte, rührte an einer Erinnerung, aber ich bekam sie nicht zu fassen. Sie hatte etwas mit den Klippen zu tun, das immerhin spürte ich. Aber je stärker ich versuchte, die Erinnerung zu fassen zu kriegen, umso nebeliger kam sie mir vor. Ich gab es auf und konzentrierte mich lieber wieder auf das Hier und Jetzt.
»Ricky, halt's Maul!«, rief jemand. »Du bist besoffen!«
Aber die meisten anderen Partygäste wirkten weniger geschockt von Rickys Worten als vielmehr gespannt, wie David jetzt
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