Herz aus Glas (German Edition)
war. Die ersten Böller wurden gezündet und vor meinem Fenster schoss eine einzelne Silvesterrakete senkrecht in die Luft und explodierte in einem roten Funkenregen.
Mein Vater, der gerade dabei war, wohl zum sechsten oder siebten Mal unter dem Bett nachzusehen, richtete sich auf und rieb sich über den Schädel. Dann griff er sich die Champagnerflasche und die beiden Gläser. Wir gingen auf den Balkon, und während wir zusahen, wie die Bewohner von Martha’s Vineyard den Jahreswechsel begingen, stießen wir mit dem Champagner an. Er war zu warm, aber schmeckte trotzdem nicht schlecht.
Ich ließ meinen Blick über den Himmel schweifen. Ganze Kaskaden roter, grüner und goldener Raketen schossen in die Luft und tauchten Sorrow in einen zauberhaften Schimmer. In dem flackernden Licht konnte ich sehen, dass David drüben ebenfalls auf seinem Balkon stand. Heftige Sehnsucht nach ihm durchfuhr mich. Ich dachte daran, wie er vorhin am Strand die Hand auf meinen Oberschenkel gelegt hatte, und mir wurde ziemlich warm bei diesem Gedanken.
Obwohl er es nicht sehen konnte, nickte ich ihm zu.
»Happy New Year«, flüsterte ich und ignorierte meinen Vater, der nachdenklich die Stirn runzelte.
A m nächsten Morgen war ich ungefähr anderthalb Stunden später wach als an den anderen Tagen. Wie zuvor hatte ich einen dicken Kopf und einen ekelhaften Geschmack im Mund. Einem Anflug von völlig irrationaler Hoffnung folgend, zog ich die Nachtschrankschublade auf und sah nach, ob wir in der Nacht vielleicht nur nicht richtig nach dem Buch geschaut hatten.
Natürlich hatten wir das. Ungefähr ein Dutzend Mal. Die Schublade war noch immer leer.
Ich seufzte. Ich hätte es lieber gehabt, Grace nicht nach dem Verbleib des Buches fragen zu müssen, aber so wie es aussah, blieb mir nichts anderes mehr übrig.
Um die Kopfschmerzen loszuwerden, beschloss ich, eine Runde zu laufen. Als ich wieder zurück war und geduscht hatte, fühlte ich mich tatsächlich wesentlich besser. Es war inzwischen fast elf. Ich prüfte, ob Miley zufällig schon online war, aber natürlich war das nicht der Fall. Vermutlich war sie nicht vor dem Morgengrauen ins Bett gegangen und würde bis mindestens vierzehn Uhr schlafen. Ich hinterließ ihr einen Neujahrsgruß, der hoffentlich nicht ganz so melancholisch klang, wie ich mich gerade fühlte, ging wieder offline und beschloss zu frühstücken.
Zu meiner Überraschung war ich im Speisezimmer fast die Erste. Nur Taylor hockte am Tisch, starrte mit aufgestützten Ellenbogen in eine Tasse mit Tee und sah ziemlich mitgenommen aus.
Ich wünschte ihr einen guten Morgen und ein frohes neues Jahr, aber sie grunzte nur etwas Unverständliches zurück.
Ich nahm mir eine Tasse Kaffee und setzte mich zu ihr. »Kater?«, fragte ich mitleidig.
Sie schaute nicht auf. »So wie sich das anfühlt, ist es ein ausgewachsener Tiger«, stöhnte sie.
Ich musste schmunzeln. »Das geht vorbei!«
Jetzt endlich hob sie den Kopf. Ihre Augen waren ziemlich unterlaufen. Es musste wirklich eine wilde Party gewesen sein. Ich verspürte einen Anflug von Neid. Vielleicht hätte ich mich gestern Abend auch einfach besaufen sollen, dachte ich. Dann könnte ich mich wenigstens an den ganzen Schlamassel jetzt nicht mehr erinnern.
»Wie war es bei euch?«
»Suboptimal.«
Sie verzog das Gesicht und ich wusste nicht, ob aus Mitgefühl oder weil ihr schlecht wurde. »Das tut mir leid«, murmelte sie und senkte den Blick wieder in ihren Tee.
»Du musst ihn trinken«, riet ich ihr. »Anstarren hilft nichts.«
Sie nickte nur. Da beschloss ich, sie in Ruhe zu lassen. Ich frühstückte wie immer, gönnte mir aber außerdem noch ein Croissant mit Marmelade. Als ich fertig war, kam Grace herein und füllte die Kaffeekanne nach, obwohl sie noch fast voll war. Ich spürte ihren prüfenden Blick auf mir ruhen und musste mir erst selbst Mut zureden, bevor ich sie nach dem Buch fragen konnte. »Ach, Grace«, sagte ich schließlich so beiläufig wie möglich. »Haben Sie zufällig ein Buch aus meinem Nachtschränkchen genommen und anderswohin gelegt?«
Ich wollte sie nicht des Diebstahls bezichtigen, also verpackte ich die Frage auf diese Weise.
Grace’ Augen weiteten sich. »Das Buch?«, flüsterte sie.
Taylor schaute kurz auf, aber sie war zu sehr mit der Zwergenkolonne in ihrem Schädel beschäftigt, um uns mehr als eine Sekunde Aufmerksamkeit zu schenken.
Ich ignorierte Grace’ Gegenfrage. »Haben Sie es weggeräumt?«
»Nein, Miss Wagner.«
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