Herz des Himmels (German Edition)
Kaithlyn schlug sachte den Samt zurück und sah den leicht mitgenommen Einband des dünnen Buches. Es hatte kaum mehr als hundertfünfzig Seiten, höchstens. Auf der Vorderseite war ein alter Holzdruck eines Drachen abgebildet. Er umklammerte mit seinem langen, zackigen Schwanz einen schneebedeckten Berg. Das Einzige, was farbig gestaltet war, waren die ausdrucksvollen, grünen Augenschlitze des schauderlichen Drachens. Kaithlyn klappte es auf und blätterte das Vorsatzpapier um. Auf der ersten Seite las sie: „Unwissenheit ist Macht, wenn sich der Unwissende sich entmächtigen lässt.“ Blaze Karacord. Kaithlyn las das Zitat ein zweites Mal. Es war der Satz, den Rose ihr so oft vorgelesen hatte, der sie das erste Mal diesen Namen hören ließ. Karacord. Darunter war die gebogene, feuerrote und leuchtend blaue Flamme, das Wappen des Drachenclans. Kaithlyn strich mit den Fingern darüber und malte die Linien nach. Sie dachte an ihren Großvater und all den Ärger, der ihr noch bevor stand und an das, was ihre Tante ihr geschrieben hatte. Der kleine, schmutzige Zettel steckte noch immer in ihrer Hosentasche.
Würde es jemals möglich sein, mit beiden zusammen an einem Ort zu leben? Hatte sie nun zwei Familien? Ihr zu Hause lag immer noch auf Custocorward. Dort hatte sie ihr ganzes Leben verbracht, dort wohnte Rose. Kaithlyn fragte sich, ob sie sich Sorgen machte. In letzter Zeit geschah es einfach zu oft, dass sie verschwand ohne, dass Rose wusste wo sie war. Das Buch konnte sie auch später lesen. Die meisten Informationen hatte sie ohnehin bereits von ihrem Großvater erhalten. Sie wünschte, er wäre hier, um sie zu unterstützen. Sie wünschte, sie wäre ein kleines Stück mehr wie er. Lyon Karacord. Der Inbegriff eines stolzen und klugen Mitglieds des Drachenclans. Ganz im Gegensatz zu Kaithlyn. Frustriert starrte sie auf ihre Hände.
Alte Feinde
„Du verschwindest in letzter Zeit ziemlich oft“, sagte Rose und bestätigte damit Kaithlyns Gedanken. Sie saß wieder in der großen Bibliothek an einem offenen Fenster und genoss die warme Brise, die den ganzen Tag über schon angehalten hatte. „Was treibst du nur die ganze Zeit, Kaithlyn?“ Rose deutete auf Harlow. „Sie ist schon ganz beleidigt.“
„Harlow! Es tut mir leid!“, murmelte Kaithlyn entschuldigend. Harlow streckte sich und blinzelte die Sonnenstrahlen aus ihren Augen.
„Schon gut“, miaute sie müde. „Ich habe die ganze Zeit geschlafen.“
„Ah! Geschlafen hast du!“, stieß Kaithlyn hervor. „Und ihr wolltet mir ein schlechtes Gewissen einreden!“
Rose lachte laut. Kaithlyn erzählte ihnen von ihrer ersten Unterrichtsstunde. Die Begegnung mit Kaine zuvor, ließ sie aus. Ebenso wie ihre Enttäuschung über ihren nicht vorhanden Erfolg. Im Prinzip hätte ich auch einfach weiter schweigen können , dachte sie.
„Meine Eltern meinten, sie wollten sich die Umgebung mal genauer ansehen, das Dorf und so. Hast du Lust? Wir könnten mitgehen. Das Anwesen ist ja nicht unser Gefängnis, oder?“, sagte Rose.
„Hört sich gut an.“
„Aber?“
„Hast du den Brief meiner Tante vergessen?“
„Na und! Niemand außer uns hat ihn gelesen.“
„Stimmt“, sagte Kaithlyn.
„Dann also abgemacht. Ich geh und sag ihnen Bescheid, kommst du mit?“
Kaithlyn nickte. Sie hatte Rose´ Eltern schon ewig nicht mehr gesehen, was bei der Tatsache, dass sie im selben Haus wohnten, echt seltsam war.
Gegen Mittag kamen sie im Dorf Litha an. Es war sehr beeindruckend mit all den Statuen von magischen Wesen, den vielen kunstvollen Springbrunnen und den bezaubernden Häusern. Jedes sah anders aus, außergewöhnlich. Eines von ihnen war so hoch, dass Kaithlyn den Eindruck hatte, es wuchs schief aus dem Boden, wie ein krummer Baum. Überall blühte die Natur, herrliche blassorange farbene Pfirsichblüten schwirrten Farben froh und wohl duftend durch die Luft. Die breiten Straßen, zu deren Seiten sich Läden aneinanderreihten, waren reich gefüllt an Menschen und anderen fremden Wesen, die hier zu Besuch waren oder einfach nur einkaufen gingen. Während sie durch die Straßen schlenderten kam Kaithlyn aus dem Staunen gar nicht mehr raus.
„Das sind Cups“, flüsterte Rose, als Kaithlyn stehen blieb, um eine Familie zu beobachten, die gerade vor einem Schaufenster innehielt, weil das jüngste Kind seine Nase an der Scheibe platt drückte, um die Puppen darin besser sehen zu können.
„Meriva!“, sagte die Mutter ärgerlich und zog
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