Herz in Gefahr (German Edition)
zukünftigen Ritter begonnen hatte, war seinem Lehrmeister wieder einmal entwischt. Er hatte sichnoch immer nicht daran gewöhnt, dass die Zeit des unbekümmerten Spiels nun vorbei war, und packte jede Gelegenheit beim Schopf, vor seinem gestrengen Lehrer zu flüchten. Außer Atem kam er bei Helen und Margaret an. »Lasst mich mit euch in den Wald kommen«, bettelte er und sah seine Schwester mit großen blauen Augen so sehnsüchtig und unschuldig an, dass diese einfach nicht widerstehen konnte. Trotzdem versuchte sie, ein strenges Gesicht aufzusetzen.
»Andrew, du weißt genau, dass du nicht immer von deinem Unterricht weglaufen darfst«, sagte sie tadelnd. »Wie willst du sonst jemals ein tapferer und kluger Ritter werden?«
»Aber für heute bin ich schon klug genug, und tapfer bin ich sowieso. Ich habe einen Knecht im Fechten besiegt und alle meine Aufgaben auswendig gelernt«, erwiderte der Knabe treuherzig und stolz. »Soll ich sie dir heruntersagen?« Und ohne Helens Antwort abzuwarten, zählte er auf, was er gestern im Etiketteunterricht, den er ganz besonders verabscheute, gehört hatte: »Kratze dich nicht am Kopf oder Rücken, als ob du einen Floh fangen wolltest. Würge nicht, spucke nicht zu weit und lach und sprich nicht zu laut. Ziehe keine Grimassen und runzele nicht ärgerlich die Stirn. Lass keine Lügen über deine Lippen kommen, sabbere nicht und lecke keine Schüsseln aus ...«
»Genug, genug!«, rief Helen und hatte Mühe, sich das Lachen zu verkneifen. Auch Margaret verzog belustigt den Mund.
Andrews Ausbruchsversuche sorgten auf der ganzen Burg für Heiterkeit. Es war mehr als einmal vorgekommen, dass der Mönch, der den kleinen Jungen in die sieben freien Künste einführte, die ein zukünftiger Lord und Ritter beherrschen musste – Arithmetik, Geometrie, Astronomie, Musik, Dialektik, Grammatik und Rhetorik – mit wehender Kutte und unter wüsten Beschimpfungen hinter Andrew her durch den Burghof rannte, ohne den Knaben jedoch einholen zu können.
Einzig an der Pferde- und Waffenkunde zeigte der Junge Interesse. Oft versuchte er sogar, die Stallburschen mit einem Holzschwert zum Zweikampf aufzufordern, um sein frisch erworbenes Wissen an ihnen auszuprobieren. Auch jetzt trug er wieder einen mächtigen Knüppel bei sich, den er bedrohlich vor den beiden Frauen hin- und herschwenkte. »Ich will euch doch nur beschützen«, rechtfertigte er sich. »Für Frauen ist es im Wald allein viel zu gefährlich. Da braucht ihr einen Mann an eurer Seite, der auf euch Acht gibt«, fügte er erklärend hinzu.
Helen strich ihrem Bruder liebevoll über das dichte, kastanienbraune Haar.
»Also gut«, sagte sie dann. »Einen starken Beschützer kann man immer gut gebrauchen. Du darfst mit uns kommen, aber nur, wenn du versprichst, nicht wegzulaufen.«
Andrew schwor bei seiner ritterlichen Ehre, dass er gehorchen werde, und gemeinsam setzten sie ihren Weg fort. Sie waren ungefähr eine Stunde gelaufen, als sie den Waldrand erreichten. Der Morgennebel hatte sich verzogen, eine kräftige Sonne schickte ihre Strahlen durch das dunkle Grün des dichten Waldes und malte goldene Lichtpunkte auf den Teppich aus Moos und satter, duftender Erde. Hier und da hatte eine Spinne ihr seidiges Netz zwischen die Äste der hohen Bäume gesponnen. Im Licht der Sonne, dass sich in den letzten Tautropfen brach, schimmerten die feinen Gespinste wie kostbares Geschmeide.
Die Vögel sangen ihre schönsten Lieder, und manchmal hörte man Zweige knacken, wenn die Tiere, die den Wald bewohnten, sich ihren Weg durch das Unterholz bahnten.
Helen blieb stehen und betrachtete wie verzaubertden Wald, der unzählige Schönheiten und Geheimnisse barg. Sie sog seinen kräftigen, herzhaften Duft ein und lauschte für einen Moment. Ein leichter Wind spielte mit den Blättern der Bäume und Heß die Äste sacht ächzen. In einiger Entfernung war das helle Flüstern eines Baches zu hören. »Kommt weiter, Helen«, drängte Margaret. »Die würzigsten Kräuter und besten Heilmittel finden wir in der Nähe des Wassers.« Die beiden Frauen, gefolgt von Andrew, suchten sich einen Weg durch das dichte Gesträuch. Zweige mussten beiseite geräumt werden, Insekten umschwärmten sie, je dichter sie in den Wald eindrangen, der sie dunkler und dunkler umschloss. Sie achteten darauf, so wenig Lärm wie möglich zu machen, um die Bewohner des Gehölzes nicht zu erschrecken. Endlich kamen sie an eine Lichtung, an deren Rand sich ein kleines Bächlein
Weitere Kostenlose Bücher