Herz in Gefahr (German Edition)
erinnern, der hoch zu Ross, seinen Vater ermunterte, doch schneller und schneller zu galoppieren, der es nicht müde wurde, Runde um Runde auf dem Burginnenhof zu reiten. Und jetzt hielt der Lord zum letzten Mal den toten Jungen auf seinem Pferd, um ihn zu seiner endgültigen Ruhestätte zu bringen.
Der Rittmeister hatte zuerst seine Fassung wieder gefunden. Mit knappen Worten erteilte er seinen Leuten die Anweisung zum Aufsitzen. Dann hob er die noch immer zitternde Kinderfrau zu sich auf das Pferd. Langsam und in gebührendem Abstand folgten sie dem alten Lord zur Burg Waterhouse.
6. Kapitel
Helen stand unter dem Torhaus und sah erwartungsvoll in Richtung Wald. Jede Minute mussten dort die Gefolgsleute von Waterhouse mit ihrem Vater und dem kleinen Andrew auftauchen. Hoffentlich ist ihm nichts Schlimmes passiert, dachte Helen, aber tief in ihrem Herzen wusste sie bereits, dass dem nicht so war. Der ungeheure Schlag des Pferdehufs, der krachend auf die Brust des kleinen Jungen niedergefahren war, hatte mit Sicherheit zu schweren Verletzungen geführt. Helen blieb nur die Hoffnung, dass ihr kleiner Bruder lebte. Und doch hatte sich eine dunkle, schwere Vorahnung wie eine drückende Last auf ihre Seele gelegt. Sie schirmte mit der Hand ihre Augen ab, damit sie im gleißenden Sonnenlicht besser erkennen konnte, was sich am fernen Waldrand abspielte. Noch immer waren keine Reiter zu sehen. Ungeduldig lief sie unter dem Torhaus auf und ab. Es war unterdessen Mittag geworden. Die Glocken der Dorfkirche, die sich zur Linken am Fuße des Hügels zwischen den Hütten der Bauern befand, läuteten zur zwölfte Stunde.
Die Felder, die vor ihr lagen, flimmerten in der heißen Sonne, die mit ungewöhnlicher Kraft vom strahlend blauen Himmel herunterschien. Obwohl es sehr warm für einen Maitag war, fror Helen. Sie zog fröstelnd die Schultern zusammen und schaute erneut zum fernen Wald. Nichts. Nur ein einzelner Feldhase lief in großen Sprüngen über den dunklen Acker. Sonst war keine Menschenseele zu sehen.
»Wie lange dauert das nur? Sie müssten längst da sein!«, murmelte Helen vor sich hin. In ihrer Stimme klang Furcht mit. Was würde sein, wenn Andrew totwar? Sie verbot sich, daran zu denken. Noch allzu frisch war die Erinnerung an den Tod ihrer Mutter in Helen lebendig. Sie dachte an die Trauer ihres Vaters, die so groß gewesen war, dass sie geglaubt hatte, auch ihn zu verlieren. Wochenlang war er wie ein Gespenst durch die Burg geschlichen, hatte jegliche Nahrung verweigert und sich in keinerlei Gespräche ziehen lassen. Es hatte wohl einen ganzen Winter gebraucht, um ihren Vater aus seinem Schweigen zu erlösen. Doch ganz der Alte war er nie wieder geworden. Mit dem Tod seiner geliebten Frau war auch die ansteckende Fröhlichkeit des Lords gestorben. Und obwohl er die Melancholie, die seither sein Leben überschattete, im Allgemeinen recht gut verbergen konnte, wusste Helen davon.
Wie würde er mit dem Tod seines einzigen Sohnes und Erben von Waterhouse fertig werden? Helen verspürte eine Angst, die so groß war, dass es ihr schier das Herz abschnürte. Angst um Andrew und Angst um ihren Vater.
»Da, Herrin! Seht, dort hinten zwischen den Bäumen bewegt sich etwas!«, rief der Torwächter plötzlich aufgeregt. Helen spähte angestrengt in die Richtung, in die der Burghüter mit dem Finger wies. Tatsächlich. Am Waldrand löste sich eine einzelne Gestalt auf einem hellen Pferd aus dem Dunkel. Das musste ihr Vater sein. Nur er allein ritt den starken, wilden Schimmel, ein Geschenk des alten Earl of Clifford. Bald erkannte Helen auch die Reiter, die ihrem Vater folgten. Langsam, fast feierlich, ritten sie über die Felder, kamen näher und näher. Helen stand bewegungslos unter dem Torhaus und hielt ihren Blick unverwandt auf die Herankommenden gerichtet. Allmählich konnte sie die anderen Reiter voneinander unterscheiden. Klar und deutlich hob sich zudem die Silhouette eines Kindes vor der breitschultrigen Gestalt des alten Lords ab.
»Der heiligen Jungfrau Maria sei Dank. Andrew istnicht so schwer verletzt, dass er nicht auf einem Pferd reiten könnte. Seht, da ist er! Vorn auf Vaters Sattel!«, sagte sie, mit kleiner Stimme zu dem Torwächter und lächelte ihn zaghaft an. Doch der Torwächter schüttelte nur leicht den Kopf und sah Helen mitleidig an. Die Reiter waren inzwischen näher gekommen, und erst jetzt erkannte Helen, dass der Kopf der kleinen Gestalt leblos im Takt des Pferdeschrittes hin- und
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