Herz in Gefahr (German Edition)
da er für den Toten nichts mehr tun konnte, versuchte Pater Gregor, die Lebenden zu trösten. Doch seine Worte vermochten es nicht, den Trauernden Trost zu bringen. Zu groß war der Schmerz über den Verlust des Sohnes und Bruders, als das gesprochene Sätze Linderung schaffen konnten.
Für Lord Waterhouse war mit seinem Erben auch seine einzige Hoffnung verloschen. Was sollte er noch auf dieser Welt? Am besten wäre es, er läge gleich daneben, dachte er. Sein Blick irrte auf der Suche nach einem Halt ziellos in der Kapelle umher und fand schließlich auf Helens Gestalt Ruhe. Und erst jetzt bemerkte der Lord, wie sehr auch seine Tochter litt. Ihre Augen waren von Schmerz und Leid ganz dunkel, die Ränder rot geweint, die Lider geschwollen. Auf ihrem blassen Gesicht hatten die Tränen Spuren hinterlassen. Ihre Lippen zitterten.
Die Trauer ist schon ein selbstsüchtiges Ding, erkannte Lord Waterhouse plötzlich, und die Erkenntnis erfüllte ihn mit Scham. Mein Gott, wie blind der eigene Schmerz doch für die Last der anderen macht, dachte er.
Der alte Lord fühlte sich plötzlich, als wäre er aus einem schrecklichen Albtraum erwacht. Seine Qual war nicht geringer geworden, aber er hatte erkannt, dass er sie lindern konnte, in dem er sie teilte. Schwerfällig erhob er sich, trat hinter den Stuhl seiner Tochter und umarmte sie. Helen sah hoch und ein schüchternes Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht. Ihr Vater war zu ihr zurückgekehrt! Sie erkannte es an seinen Augen, die betrübt, doch voller Liebe auf ihr ruhten. Nun waren sie wieder zu zweit. Und gemeinsam würden sie diese schlimme Zeit überstehen.
Pater Gregor atmete auf.
Er hatte den Sinneswandel des Herrn von Waterhouse verfolgt. Als hätte er hinter seiner Stirn lesen können, wusste der Geistliche, was in dem alten Lord vorgegangen war. Und er wusste auch, dass das Ärgste nun überstanden war. Der schreckliche Schock, die Lähmung, die der Burgherr bei Andrews Anblick auf der Lichtung verspürt hatte, lösten sich bereits.
Behutsam dirigierte Pater Gregor Vater und Tochter, die sich fest an den Händen hielten, aus der Kapelle hinaus und führte sie, so als sei er der Hausherr, in die Halle. Dort rief er nach einer Magd und verlangte nach Wein.
Wenig später hatten sich die engsten Vertrauten der Familie am Kamin zusammengefunden: der Rittmeister, die Kinderfrau, Pater Gregor und natürlich die Waterhouses selbst.
Und hier, inmitten seiner Vertrauten, fand der Lord nun auch die Kraft, nach den genauen Geschehnissen zu fragen. Behutsam griff er nach der Hand seiner Tochter und forderte sie leise auf: »Kind, erzähle mir genau, was heute Vormittag im Wald geschehen ist.«
Helen holte tief Luft und berichtete, was sie erlebt hatte. Noch einmal tauchten vor ihren Augen die Geschehnisse in aller Deutlichkeit auf. Sie erzählte, immer wieder von Schluchzen unterbrochen, wie der unbekannte Reiter auf die Lichtung gestürmt war. Sie sah noch einmal das hochsteigende Pferd, hörte seinen mächtigen Huf auf die schmale Jungenbrust krachen. Sie sah ihren Bruder bewegungslos im Gras liegen, hilflos der Ohrfeige des Fremden ausgeliefert.
Während sie sprach, hatte Lord Waterhouse seine Hände fest um den Weinkelch gelegt. Die Fingerknöchel traten weiß hervor, so sehr presste er den Becher mit aller Kraft zusammen. Sein Schmerz schlug in Wut um. Wie konnte der Fremde den am Boden liegenden Jungen ins Gesicht schlagen! Reichte es denn nicht, dass das Pferd dieses Schurken das Kind, sein Kind, seinen Sohn, verletzt hatte! Diese unnötige Demütigung, diese sinnlose Rohheit, die nichts anderes als pure Bösartigkeit war, traf das Herz des Vaters mehr als es das bloße Unglück vermocht hatte. Es gab nichts Verwerflicheres, Abscheulicheres, als einen Wehrlosen zu schlagen. Noch dazu ein Kind! Doch diese Niedertracht würde er rächen! Der Unbekannte würde dafür büßen müssen, wer immer er auch war!
Mit mühsam beherrschter Stimme fragte er Helen: »Hast du eine Ahnung, wer der Fremde gewesen sein könnte? Ist dir nichts aufgefallen, was dir bekannt vorkam? Die Gestalt, die Kleidung, ein Wappen vielleicht oder eine Stickerei auf der Satteldecke?«
Helen schüttelte hilflos den Kopf. »Nein, nichts.« Dann sah sie zu Margaret hinüber.
»Und du, hast du etwas erkannt?«, drang der Lord nun in die Kinderfrau.
Aber auch Margaret schüttelte den Kopf. Sie sah ihren Herrn an, als denke sie über etwas nach. Schließlich antwortete sie: »Doch, an eines
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