Herz in Gefahr (German Edition)
der Stadt aufhielt. Doch wie sollte sie ihn finden? Wo ihn suchen? Am späten Vormittag hatten sie die Stadttore erreichtund wurden ohne Weiteres eingelassen. Unweit des Marktes, in der Nähe der High Street, trennten sich die Reisegefährten. »Viel Glück und Gott schütze Euch, Henry«, sagte die Töpfersfrau, der Helen ans Herz gewachsen war, voller Anteilnahme und zog den verkleideten Lehrjungen kurz in ihre mächtigen Arme. »Ich danke Euch sehr, Ihr braven Leute. Gott segne Euch und belohne Euch für den Dienst, den Ihr mir erwiesen habt«, antwortete Helen gerührt und drückte nun ihrerseits die beiden an sich.
Der Karren rollte weiter. Noch ein letztes Mal winkte Elizabeth der jungen Lady zu, dann war Helen allein. Unsicher sah sie sich um. Sie war noch niemals allein in der großen Stadt gewesen. Die vielen Menschen überall, die unterschiedlichen Gerüche und der Lärm erschreckten und verwirrten sie für einen kurzen Augenblick. Die Straße war von Unrat übersät, fette Ratten huschten vor ihren Füßen entlang. Eine Frau beugte sich aus dem Fenster eines Wohnhauses und schüttete schwungvoll den Inhalt eines Nachtgeschirrs auf die Straße. Helen machte einen Satz rückwärts und stieß gegen einen zerlumpten Bettler, der an einer hölzernen Krücke mühsam seines Weges humpelte.
»Habt Erbarmen mit einem armen Krüppel«, winselte der Mann. »Gebt mir ein Geldstück, damit ich nicht verhungern muss.«
Helen nestelte an ihrem Gürtel nach der ledernen Börse, doch im letzten Moment fiel ihr ein, dass sie ja ein armer Lehrjunge war, der selbst nichts zu verschenken hatte. Sie holte also nur einen Kanten Brot und ein Stück harten Käse aus ihrem Bündel, das sie lässig über die Schulter geworfen hatte, und reichte es dem Bettler.
»Vergelt‘s Gott, junger Mann«, murmelte der Alte, schenkte Helen ein zahnloses Lächeln und hinkte weiter.
Unschlüssig spähte sie die Gasse hinauf und hinab.Wo sollte sie mit ihrer Suche beginnen? Sie beschloss, zuerst in den besseren Gasthäusern der Stadt nach Robin zu fragen. Sie lief die Straßen von Canterbury entlang, von der High Street zur Kings Lane, von der Kings Lane zur Wood Street, an der St. Mary Church vorbei bis zum Burgate Ward. Sie fragte im Gasthaus Zum weißen Roß nach Robin, klopfte an die Tür der Herberge Zum goldenen Becher, wurde im Gästehaus der Wollhändlergilde rüde hinausgeworfen und fand sich schließlich erschöpft vor den Toren der Kathedrale wieder. Es war inzwischen später Nachmittag geworden. Helen setzte sich auf die Stufen, die zum Eingang des Gotteshauses führten, und streckte die Beine von sich. Sie hatte Hunger und Durst. Ihre Füße schmerzten, und sie war müde. Eine leise Hoffnungslosigkeit hatte sie überfallen. Beinahe alle Gasthäuser und Herbergen hatte sie nun abgeklappert, aber Robin noch immer nicht gefunden. Es war aussichtslos, noch länger herumzulaufen. Robin wurde gesucht und würde schon deshalb wohl kaum unter seinem richtigen Namen ein Quartier nehmen. Doch auch ihre Beschreibung von ihm hatte ihr nicht weitergeholfen. Bald würde die Dunkelheit hereinbrechen, und sie war allein in einer fremden Stadt. Was sollte sie nur tun? Hilfesuchend schickte Helen einen Blick zum Himmel. Ließ der Herrgott sie etwa auch im Stich? Plötzlich wurde Helen gewahr, wo sie sich befand. Sie stand auf und beschloss, in die Kathedrale zu gehen. Am Grab des Heiligen Thomas würde sie um Hilfe bitten. Schließlich war Thomas Becket – der ehemalige Erzbischof von Canterbury, der 1170, vor knapp 300 Jahren auf Geheiß seines Königs, Heinrich IL, auf den Stufen des Altars sein Leben lassen musste – zum Märtyrer geworden und es hieß, dass ein Besuch der Pilgerstätte schon so manchen von seiner Last und seinem Kummer befreit hatte. Ihn, den unerschrockenen Mann, der drei Jahre nach seinem Tod heilig gesprochen worden war, und dessen Gebeinenun in der Kathedrale ruhten, würde sie um Hilfe anflehen. Er würde ihr helfen, so wie er Zeit seines Lebens darum gekämpft hatte, der Gerechtigkeit und Gottestreue zum Siege zu verhelfen. Entschlossen öffnete Helen die schwere Kirchentür und betrat die Kathedrale. Die kühle Stille, die sie umfing, bewirkte, dass Helen selbst ruhiger und zuversichtlicher wurde. Neugierig blieb sie stehen und sah sich um. Durch die hohen Kirchenfenster schien das Licht der späten Nachmittagssonne. Das lang gestreckte Kirchenschiff mit den hohen Säulen, auf denen die gewölbte Decke ruhte, war von
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