Herz in Not
wenn dir der Zaster ausgeht - oder besser uns, da wir ja nun alle arm sind: Was stets zählt bei den Männern, ist der Zauber der Schönheit. vermutlich hat dir dieser korpulente Anwalt einen Antrag gemacht, der nur so von Respekt und Bewunderung triefte.“ Angewidert verzog Matilda ihr faltiges Gesicht. „Natürlich begehrt er dich. Das tut jeder normale Mann, der dich sieht... so ist das nun mal.“
Die Ellbogen auf dem Ankleidetisch und das Kinn auf die Handflächen gestützt, betrachtete Victoria ihr Spiegelbild. Klare graue Augen, ein heller Teint, seidiges schwarzes Haar, ein schmales, herzförmig geschnittenes Gesicht. Die Nase ist zu schmal und zu kurz und der Mund zu breit, fand sie. Doch ihr ganzes Leben lang hatte man sie als hübsch bezeichnet. Selbst ihr Vater, der ihr sonst nie Komplimente machte, hatte einmal widerwillig zugegeben, dass sie die zarte Schönheit ihrer Mutter geerbt habe ... und nichts von ihm, außer dem schwarzen Haar. Daniel hatte ständig betont, dass er stolz auf seine Kind-Frau sei, wie er sie liebevoll nannte. Doch der Mann, der ihr die schönsten Komplimente gemacht hatte - abrupt richtete Victoria sich auf -, an den wollte sie sich nicht mehr erinnern. Sie rieb sich die Wangen, um etwas Farbe zu bekommen.
„Lass das!“ Matilda zog sich die Haarnadeln aus ihren grauen Locken. „Du bist keines dieser rosa-roten Mädchen mit strohblondem Haar und himmelblauen Augen“, lispelte sie mit den Nadeln zwischen den Zähnen. „David Hardinge hat dich nicht aus den Augen gelassen ... Ich könnte schwören, du hast diesen steinreichen Junggesellen bezaubert.“ Aus den Augenwinkeln beobachtete sie ihre Nichte.
„So?“ sagte Victoria pikiert und stand auf. „Bezaubert, deshalb war er so wortkarg. Wir haben knapp ein Dutzend Worte gewechselt in der kurzen Zeit, in der er sich herabließ, dem Leichenschmaus seines Verwandten beizuwohnen.“
„Aha, das ist also der Grund für deine blassen Wangen“, sagte Matilda leichthin und stellte fest, dass Victoria rot wurde. „Aus sicherer Quelle in London weiß ich, dass er jetzt eine äußerst akzeptable Partie ist. Er führt einen recht lockeren Lebenswandel, und dennoch reißen sich die Gastgeberinnen um ihn, obwohl er den meisten einen Korb gibt. Reichtum und Titel öffnen eben alle Türen ohne Rücksicht auf Charakter und Ruf.“ Sie schwieg eine Weile nachdenklich, bevor sie fortfuhr: „Er sah viel älter aus. Anfänglich dachte ich, er hätte einen zynischen Zug um die Mundwinkel und die Augenpartie, doch später verlor sich das wieder. Älterwerden bekommt manchen Männern gut. Erst dann werden sie zur Persönlichkeit, strahlen Weisheit und Erfahrung aus. Er ist eine so attraktive und würdige Erscheinung, dass man ihn direkt für ein Beispiel an Wohlanständigkeit halten könnte.“
„Vielleicht ist er das ja auch.“
„Eben nicht!“ echauffierte Matilda sich. „Als ich das letzte Mal mit Colonel Whiting und seiner Frau Karten gespielt habe, haben sich die Männer über Viscount Courtenay die Mäuler zerrissen. Ach, was soll’s“, forderte sie Victorias stille Neugier heraus. „Sie haben wahrscheinlich mächtig übertrieben. Bestimmt! Denn allein das Wenige, was ich mitbekommen habe, würde selbst den Teufel erröten lassen!“
„Wenn du einmal anfängst, dann musst du auch alles erzählen, Tante Matty“, bat Victoria mit einem unterdrückten Lachen.
„Nein! Ich bin viel zu alt, um das zu wiederholen.“ Matilda hielt sich die Hand vor den Mund. „Ganz gewiss werde ich einer wohlerzogenen jungen Dame nicht von einem so obszönen, schamlosen Benehmen berichten.“
„Betrifft es seine Freundinnen?“ fragte Victoria vorsichtig, während sie ihr Haar bürstete.
„Freunde, vielleicht... Freundinnen, nie!“ schnaubte Matilda entrüstet. „Mehr erfährst du nicht von mir, mein Kind. Ich habe sowieso schon viel zu viel gesagt. Ich verschwinde jetzt ins Bett. Meine alten Knochen brauchen Ruhe.“ An der Tür drehte sie sich noch einmal um. „Merk dir eins, Victoria, es gibt Schlimmeres, als einen Lebemann wegen seines Geldes und seines Titels zu heiraten. Schließlich wolltest du ihn unbedingt heiraten, als er keines von beiden besaß“, erinnerte sie ihre Nichte, bevor sie die Schlafzimmertür hinter sich schloss.
„Das wird Sie interessieren, Mylord. Albert Gibbons hat es persönlich vorbeigebracht.“
Stirnrunzelnd nahm David das Schreiben entgegen. Es muss schon eine wichtige Nachricht von meinem Anwalt
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