Herzblut - Gegen alle Regeln (German Edition)
schlimmer, bis ich die Stimmung von jedem nachfühlte, der vorbeiging. Als Experiment verglich ich das, was ich spürte, mit den Gesichtsausdrücken und Gesprächsfetzen, die ich aufschnappte, und konnte so einiges zusammenbringen. Freude löste ein Kribbeln aus, das mich fast lachen ließ. Sorgen waren schwer und kalt. Sie glitten wie ein Eisklumpen über meine Haut. Dagegen war Liebe mollig und weich, wie warme Wattebäusche. Wut wetzte wie ein Messer an meiner Haut.
Als ich die hundert Meter zu meinem Spind geschafft hatte, schloss ich die Augen und versuchte, an etwas anderes zu denken. An irgendetwas, um aus diesem überwältigenden Gefühlswirrwarr herauszufinden. Etwas Beruhigendes. Etwas …
Tristans Augen, die mich ansahen. Der Klang seiner Stimme, die tief und kehlig meinen Kosenamen flüsterte und mich fragte, ob es mir gut ging. Seine warmen Hände auf meinen Schultern im Algebraunterricht.
Nach einer Weile ebbten die Gefühle der anderen ab. Ich senkte die Schultern, die ich fast bis an die Ohren hochgezogen hatte, und konnte wieder frei atmen.
Okay. Also konnte ich die Gefühle von anderen Leuten spüren. Keine berauschende Entwicklung, und ich hätte gern eine kleine Vorwarnung bekommen. Aber zumindest konnte ich es kontrollieren, wenn ich ruhig blieb. Kam das von der Seite der Hexen oder der Vampire?
Es musste Magie sein, eine Art übersinnlicher Wahrnehmung, oder? Also kein Grund zur Panik, es entwickelten sich keine Vampirfähigkeiten. Auch wenn es nicht gerade normal war. Aber vielleicht konnten das alle Nachfahren und zeigten es nur nicht. Sogar Tristan.
Oh Mist. Konnten sie meine Gefühle lesen, wenn ich in seiner Nähe war? Hatte er gemerkt …
Mit brennenden Wangen unterbrach ich mich bei diesem Gedanken. Ich ging weiter und überlegte, ob ich meine Eltern oder Nanna anrufen und von dieser Neuigkeit erzählen sollte. Wieso sollte ich eigentlich? Ich sollte sie bei neuen Entwicklungen anrufen, damit sie mir helfen konnten, mit ihnen fertigzuwerden. Aber das hatte ich allein geschafft. Um diese Fähigkeit zu kontrollieren und alle fremden Gefühle auszublenden, reichte es, wenn ich ruhig blieb. Das Einsatzkommando war nicht nötig. Noch nicht.
Na gut, also würde ich nicht zu Hause anrufen. Dafür könnte ich meine Bücher für den ganzen Tag mitnehmen, damit ich nachher nicht noch einmal auf den Hauptflur kommen musste. Nur zur Sicherheit.
„Gut gemacht, Savannah!“ Captain Kristi sprang jubelnd auf mich zu, um abzuklatschen. Auf ihrem Kopf wippten unzählige schwarze Zöpfchen. Sie war die Anführerin der Charmers-Tanzgruppe und Hilfslehrerin in meinem Sportkurs.
Als sich unsere Handflächen trafen, spürte ich nichts. Ich standzu sehr unter Schock. Eine dreifache Pirouette. Nachdem ich vorletzte Woche nicht einmal eine einfache hinbekommen hatte. Das war ein glattes Wunder. Nach dem Tanzen schwebte ich die Treppe hinunter. Während ich mich anzog und zum Mittagessen in die Cafeteria ging, fühlte ich mich wie einer von diesen Glitzerballons, ganz leicht und funkelnd. Morgen würden mir bestimmt die Wangen wehtun, weil ich so grinsen musste. Ich konnte einfach nicht aufhören. Heute war ich zum ersten Mal genauso gut gewesen wie die geübten Tänzerinnen in meinem Kurs. Ich hatte nicht nur eine dreifache Pirouette hingelegt, sondern war auch endlich beim Spagat bis ganz auf den Boden gekommen und nach den Spagatsprüngen sauber gelandet, ohne nachzukippeln. Und noch besser waren die hohen Beinwürfe – statt mit Mühe und Not gerade mal Brusthöhe zu erreichen, hatte ich mir jedes Mal fast vor den Kopf getreten. Und ausnahmsweise hatte ich niemand anderen erwischt. Anscheinend waren sogar die erfahrenen Tänzerinnen im Kurs beeindruckt. Und jetzt, wo ich nicht mehr so eine Niete war, machte das Tanzen richtig Spaß!
Dieser Freak konnte endlich richtig tanzen. Vielleicht sogar gut genug, um es nächsten Monat in die Charmers-Tanzgruppe zu schaffen, falls ich verrückt genug war, mich zu bewerben. Ha! Diese Gefühle konnte der Clann gern mitbekommen.
„Hallo, Mädels“, begrüßte ich meine Freundinnen, als ich meinen Rucksack neben unserem Tisch in der Cafeteria fallen ließ. Mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht sah ich sie an. „Ich hole mir nur schnell was zu essen. Danach könnt ihr mir erzählen, was ich letzte Woche verpasst habe.“
Niemand antwortete, aber ich ließ ihnen auch nicht viel Zeit, bevor ich mich bei der Essensausgabe anstellte. Die Cafeteria war so
Weitere Kostenlose Bücher