Herzen aus Asche
Strudel hinab, aus dem sie sich aus eigener Kraft nicht mehr befreien konnte. Sie musste es zu Ende bringen, musste erfahren, was mit Loan und seiner Familie geschehen war. Es war wie ein Zwang.
Amelie befand sich in einem rechteckigen Flur, der geradeaus in einen großen Raum führte. Auf der linken Seite stand eine Tür offen, dahinter sah sie eine Küchenzeile. Rechts führte eine Treppe in einer Linkswindung in das obere Stockwerk.
Langsam ging sie voran. Sie erreichte ein Wohnzi mmer. Eine alte Polstergarnitur, fleckig und staubig, dominierte das Zimmer. Auf dem Tisch davor stapelten sich die üblichen Gebrauchsgegenstände eines nicht allzu ordentlichen Bewohners: benutzte Tassen, ein Teller, ein aufgeschlagenes Buch mit handgeschriebenen Seiten. An den Wänden hingen zahlreiche Bilder, aber keine persönlichen Fotos.
Mit zitternden Händen griff Amelie nach dem Buch vom Couchtisch. Sie pustete Staub von den Seiten. Die Schrift war dieselbe wie die aus den Briefen, die sie im Geheimfach auf dem Dachboden gefunden hatte. Olof Hellström hatte hier einmal gewohnt, keine Frage. Aber wo war er jetzt? Es machte nicht den Eindruck, als hätte er seinen Aufbruch geplant. Vielmehr sah es so aus, als sei er unerwartet verschwunden. Hätte nicht Staub alle Einrichtungsgegenstände bedeckt, hätte man meinen können, der Bewohner dieses Hauses sei erst vor ein paar Minuten gegangen. Es lag sogar eine angebrochene Chipstüte auf dem Sofa.
Amelie durchblätterte die Seiten des Buches, sie haft eten nur noch schlecht in der Bindung, die Buchdeckel wirkten alt und abgegriffen, das Papier war vergilbt. Schnell schlussfolgerte sie, dass es sich um ein Tagebuch handelte. Sie unterdrückte den Impuls, es beiseite zu legen, um die Privatsphäre des Verfassers zu wahren. Es war einfach zu wichtig herauszufinden, was mit Olof Hellström geschehen war.
Der jüngste Eintrag lag schon fast sieben Wochen in der Vergangenheit. Herr Hellström berichtete von belan glosen Dingen, von seiner Einsamkeit und seinen körperlichen gebrechen. Er sprach immer wieder von einer Johanna, die er vermisste - eine verstorbene Partnerin? Amelie blätterte zurück zum Anfang. Dort hatte er auf einigen Seiten Fotos eingeklebt. Im ersten Moment erschrak Amelie, denn das Kind darauf sah aus wie Leif.
Loan .
Olof Hellström schrieb über alltägliche Dinge, über die Ler nfortschritte seines Sohnes und über Ausflüge ins Umland. Seine Schrift war klar und symmetrisch. Dann veränderte sie sich allmählich, wurde kleiner und unregelmäßiger. Gleichzeitig änderte sich auch die Ausdrucksweise seiner Berichte. Mitten im Buch gab es mehrere unbeschriebene Seiten, den darauf folgenden Eintrag hatte Herr Hellström mit über einem Jahr Abstand verfasst.
Loan macht mir Angst. Er spricht nur noch selten und hat damit begonnen, die Tiere der Nachbarn zu quälen. Er wirft mit Steinen nach ihnen, oder schneidet ihnen die Schwänze ab. Man hat uns mehrfach angezeigt deshalb. Er wurde von der Schule verwiesen, weil er seine Mitschüler und Lehrer einschüchtert. Ich würde gerne herausfinden, ob sein Bruder sich ebenso entwickelt, aber Eva meldet sich auf keinen meiner Bri efe. Ich traue mich nicht, persönlich nach Länna zu fahren, weil sie wieder geheiratet hat. Ihr neuer Mann weiß nichts von mir und Loan, und ich möchte ihr Glück nicht gefährden. Ich bin verzweifelt und weiß nicht mehr weiter.
Amelie blätterte um. Wieder lagen Monate zwischen den Einträgen.
Johanna hat mich dazu gedrängt, Loan zuhause zu behalten. Wir erlauben ihm nicht mehr, das Haus zu verlassen. Die meiste Zeit verbringt er in seinem Zimmer. Er spricht jetzt fast gar nicht mehr, zudem ist er sehr aggressiv, greift mich und Johanna an.
Wieder ein Zeitsprung von mehreren Wochen.
Wir haben uns nicht mehr zu helfen gewusst und verständigten das Jugendamt. Man hat eine psychische Störung bei ihm diagnostiziert. Er lebt jetzt in einem Pflegeheim in Uppsala, das St. Franziskus. Ich glaube, Loan hasst uns dafür.
Die folgenden Seiten waren leer. Offensichtlich hatte Olof Hellström das Tagebuchschreiben aufgegeben. Am elie hätte gerne gewusst, was aus Leifs Zwillingsbruder geworden war, ob er noch lebte, wann und ob er das Heim verlassen hatte. Sie schlug das Buch zu und steckte es in ihre Handtasche. Für die Dauer mehrerer Atemzüge stand sie starr im Wohnzimmer und versank in ihren Gedanken. Sollte sie nach Hause gehen? Nein. Sie war bereits zu weit gegangen, um ihre
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