Herzen aus Asche
sei, die Sache auf sich beruhen zu lassen und den Heimweg anzutreten. Immerhin hatte sie bereits viel in Erfahrung gebracht, wovon sie Leif berichten konnte. Vielleicht wäre es besser, wenn er sich selbst um die Kontaktaufnahme mit seinem leiblichen Vater kümmerte. Doch er hatte sich seit Tagen nicht gemeldet, und Amelie machte sich Sorgen. Würde er überhaupt je wieder auftauchen? Und was war er wirklich? Am Ende nur ein Produkt ihrer Fantasie? Hatte sie womöglich den Verstand verloren? Nein. Sie war sich völlig sicher, bei vollen Bewusstsein gewesen zu sein, als Leif sich vor ihren Augen in Luft aufgelöst hatte. Er war verstört gewesen, vollkommen verständlich. Aus irgendeinem Grund fühlte Amelie sich ihm gegenüber verpflichtet, ihm zu helfen. Er hatte so verzweifelt gewirkt!
Sie dachte über die Worte von Lisa Hellström nach. Demnach sollte Olof Hellström ein verschrobener alter Mann sein, der seinen dämonischen Sohn in ein Kinde rheim gegeben hat. Dabei hatte er in den Briefen an seine Exfrau in Länna doch so nett und zuvorkommend geklungen. Hatte Lisa tatsächlich von dem richtigen Mann gesprochen?
Amelie wandte sich nach links. Sie würde es herau sfinden. Zumindest wollte sie sich ansehen, wo und wie Olof Hellström lebte. Dann konnte sie immer noch entscheiden, ob sie an seine Tür klopfen oder das Weite suchen würde.
Niemand , dem sie auf der Straße begegnete, beachtete sie. Amelie schätzte, dass der Ort aufgrund seines historischen Bahnhofs im Sommer von Touristen überrannt wurde. Dennoch glaubte sie, Blicke im Nacken prickeln zu spüren, als würde sie jemand verfolgen. Doch immer, wenn sie sich umdrehte, sah sie nichts als eine breite graue Straße, die sich durch Bäume und einzeln verstreute Häuser schlängelte. Je weiter sie ging, desto dünner wurde die Besiedlung. Sie passierte ein kleines Wäldchen und eine Weide, ehe sie in der Ferne ein einzelnes Haus erspähte, etwas abseits der Straße und halb verborgen hinter hohen Holundersträuchern. Wäre es nicht leuchtend rot gestrichen gewesen, hätte Amelie es womöglich übersehen. Ein unscheinbarer schmaler Pfad führte dorthin. Sie spürte instinktiv, dass sie ihr Ziel erreicht hatte.
Von Weitem hatte es wie ein gepflegtes Einfamilie nhaus in skandinavischem Baustil gewirkt, aus der Nähe betrachtet enthüllte sich das volle Ausmaß der Verwahrlosung. Die Farbe splitterte, Moos bedeckte Teile der Fensterrahmen und der Veranda. Den Garten konnte man nur noch erahnen, denn kniehohes Gras, Unkraut und die Schösslinge der umstehenden Bäume begannen bereits, das Grundstück zurückzuerobern. Es sah aus, als hätte sich über Monate niemand mehr um Haus und Hof gekümmert. Laub bedeckte knöchelhoch die Treppe zur Eingangstür. Lebte hier überhaupt noch jemand?
Amelie erkämpfte sich einen Weg durch dorniges Gestrüpp bis zur Eingangstür. Hinter den Fenstern blieb es dunkel. Sie sah ihre Hoffnungen schwinden, Olof Hellström hier anzutreffen, obwohl das verblasste hölzerne Namensschild an der Tür eindeutig seinen Namen trug. Vielleicht war es eine bessere Idee, zum Einwohnermeldeamt von Uppsala zu gehen und sich dort auf Spurensuche zu begeben. Allerdings würde Leif es persönlich tun müssen, immerhin war er ein Verwandter. Amelie nahm sich vor, ihn bei nächster Gelegenheit nach seiner Geburtsurkunde zu fragen - sollte er eine besitzen. Sie hoffte sehr, dass Leif überhaupt noch einmal auftauchte. So viele Fragen quälten sie, und ihr Herz wurde schwer, wenn sie sich ausmalte, ihn nie wieder zu sehen.
Amelie klopfte zwei Mal kräftig an die verwitterte Eingangstür. Sie erwartete nicht, dass jemand öffnete, und damit behielt sie recht. Allerdings bemerkte sie beim Anklopfen, dass die Tür lediglich angelehnt war. Mit einem Finger schob sie sie langsam nach innen auf, es knarrte.
»Hallo? Ist da jemand?« Ein widerlicher Geruch schlug ihr entgegen, muffig und süß. Es roch, als hätte jemand über einen sehr langen Zeitraum Küchenabfälle gelagert und verrotten lassen. Unwillkürlich wich sie einen Schritt zurück.
Sie sah sich um, aber auf dem entlegenen Pfa d war niemand zu sehen. In der Ferne hörte sie die dröhnenden Motoren der Autos und Busse auf der Hauptstraße. Sie kam sich wie eine Schwerverbrecherin vor, und eigentlich war sie viel zu gut erzogen, um Hausfriedensbruch zu begehen, dennoch tat sie einen Schritt über die Türschwelle. Es gab kein Zurück mehr. Es fühlte sich an, als zöge sie etwas in einen
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