Herzen aus Asche
Recherchen aufzugeben. Sie hatte einen weiteren Anhaltspunkt erhalten, ein Pflegeheim in Uppsala.
Amelie wandte sich zum Gehen ab. Als sie die Treppe im Flur passierte, packte sie ein eiskaltes Schaudern. Ein strenger Geruch kroch aus dem oberen Stockwerk die Treppe hinab, und das Grauen, das Amelie daraufhin packte, trieb sie an den Rand einer Panik. Sie spürte, wie ein Schweißtropfen ihre Wirbelsäule hinab rann. Sie wollte weglaufen, aber ihre Beine gehorchten ihr nicht länger. Wie angewurzelt blieb sie vor der untersten Stufe stehen und blickte nach oben. Bis auf den seltsamen G eruch konnte Amelie nichts Außergewöhnliches feststellen, und dennoch war sie sich sicher, in der ersten Etage etwas vorzufinden, dessen Anblick sie nächtelang nicht schlafen lassen würde.
Sie setzte einen Fuß auf die unterste Stufe, zog den anderen zögerlich hinterher. In unendlicher Langsamkeit kämpfte sie sich die Treppe hinauf, obwohl jede Faser ihres Körpers danach schrie, das Haus augenblicklich zu verlassen.
Ihr Atem ging flach, ihre Hände waren feucht. Sie wollte nicht hier sein. Weshalb tat sie Dinge, die sie verabscheute? Gab es auch in diesem Haus eine fremde Macht, die sie dazu zwang?
Am Ende der Treppe erreichte sie einen kleinen Flur, von dem drei Türen abzweigten. Die der Treppe gegenüberliegende Tür stand weit offen, von dort schien der unangenehme Geruch zu kommen. Obwohl sie würgen musste, ging sie weiter, jedoch nur bis zur Schwelle. Ein Schwarm Fliegen stob auf und surrte ihr um die Ohren. Amelie lehnte sich gegen den Türsturz, denn ihre Beine drohten unter ihr nachzugeben. Sie blickte in ein Badezimmer. Obwohl das Fenster einen Spaltbreit geöffnet war, konnte sie den Gestank kaum ertragen.
Der gesamte Raum war weiß gefliest und wirkte auf den ersten Blick sauber und gepflegt. Am Waschbecke nrand lag ein Rasierpinsel, daneben ein Stück Seife. Doch etwas anderes zog Amelies Blicke auf sich wie ein Magnet. Über dem Badewannenrand hing ein Mensch. Den Oberkörper nach vorn gelehnt, kniete er vor der gekachelten Einfassung wie zum Gebet. Er trug einen Pyjama, die nackten Füße waren blau und schwarz angelaufen. Die Wanne war nur zu etwa einem Drittel mit brackigem Wasser gefüllt, aber Amelie vermutete anhand der Schmutzränder, dass sie einst voll gewesen war. Sie wagte es nicht, einen Schritt näher heran zu gehen, um den Kopf des Mannes zu sehen. Sie wusste auch so, dass er tot war. Ertrunken in seiner eigenen Badewanne. Sie hob den Blick. Auf den Fliesen oberhalb der Wanne prangten zwei verlaufene Symbole von etwa dreißig Zentimetern Größe. Vermutlich hatte sie jemand mit dem bloßen Finger an die Wand gemalt. Das linke Zeichen war ein gleichschenkliges Dreieck, dessen Spitze nach rechts zeigte. Das rechte Zeichen glich dem Buchstaben E, aber der obere Querbalken fehlte, die anderen beiden Balken waren nach oben hin verschoben, sodass ein Spitzer Winkel entstand. Der Zeichner hatte bräunliche Farbe verwendet, die an einigen Stellen verlaufen war. Amelie schoss die Erkenntnis wie ein Pfeil in den Leib. Getrocknetes Blut.
Sie trat einen Schritt zurück und übergab sich. Mit tlerweile hatten es sich die zahlreichen Fliegen, die durch das offene Fenster gekommen waren, auf ihrer Brutstätte wieder bequem gemacht. Amelie war froh, dass die Leiche Kleidung trug, denn sicherlich tummelte sich noch anderes Getier auf dem halb verwesten Körper.
Als hätte sich ein e Blockade gelöst, oder als hätte ihr jemand Fesseln abgenommen, erlangte Amelie die Kontrolle über ihren Geist zurück. Das Entsetzen über den grausigen Fund war stärker als der Zwang, dem sie sich ausgeliefert gefühlt hatte. Nichts wie weg! Weshalb war sie bloß hierher gekommen? Wie in Trance taumelte sie die Treppe hinunter. Sie wäre gerne schneller gelaufen, aber ihr Körper fühlte sich an, als seien keine Muskeln mehr darin. Inzwischen war das T-Shirt, das sie unter der Bluse trug, gänzlich von Schweiß durchnässt. Sie zitterte, als hätte sie Schüttelfrost. Ein widerlicher Geschmack breitete sich auf ihrer Zunge aus. Was würde sie noch alles ertragen müssen?
Als sie aus dem Haus trat, atmete sie tief ein, als wäre sie durch eine Wasseroberfläche gestoßen. Ihre Lungen verlangten nach frischer Luft. Sie war kaum in der Lage, einen logischen Gedanken zu fassen. Sie wusste lediglich, dass jemand Olof Hellström ermordet hatte, und dies schon vor Wochen. Niemand hatte den einsamen alten Mann vermisst.
Amelie
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