Herzen aus Asche
Amelie und die anderen verabschiedeten sich ebenfalls voneinander. Sie gingen noch eine Weile lang nebeneinander her, ehe sich ihre Wege an der nächsten Kreuzung trennten.
Amelie musste fast eine halbe Stunde lang auf den Bus nach Länna warten, der um diese Uhrzeit nur noch stündlich fuhr. Sie stellte sich unter eine Straßenlaterne und schlug die Zeitung auf. Es handelte sich um eine wenig sachliche Berichterstattung eines reißerischen T agesblättchens, und der Verfasser des Artikels hatte mehr Wert auf Dramatik als auf Fakten gelegt. Zumindest konnte Amelie dem Artikel entnehmen, dass am Vortag in einer psychiatrischen Klinik nahe Stockholm die Leiche eines fünfunddreißigjährigen Mannes gefunden wurde. Er soll auf dem Dach der Klinik gelegen haben, ein Trichter steckte noch in seinem Hals. Sein Mörder hatte seine Lungen mit Wasser gefüllt. Der Obduktionsbericht fehlte allerdings noch, sodass unklar war, ob der Mann zuvor schon tot oder bewusstlos gewesen war. Amelie suchte nach Begründungen, weshalb der Fall nicht in Zusammenhang mit den anderen Morden stehen konnte, fand aber keine, die sie wirklich überzeugt hätten. Der Angestellte war ertrunken, wenn auch nicht im klassischen Sinn. Zudem handelte es sich um dieselbe Klinik auf dessen Dach (schon wieder das Dach?) Loan damals tot im Wassertank gefunden worden war.
Amelie wollte die Zeitung bereits zuschlagen, als ein unscheinbarer Nebensatz in einem Infokasten in der Ecke der Seite ihre Aufmerksamkeit erregte. Das Opfer, Hugo F., sei der Presse demnach bereits bekannt gewesen, weil er selbst in der Vergangenheit unter Mordverdacht gestanden haben soll. Man hatte ihn verdächtigt, einen Patienten getötet zu haben, ihn jedoch frei gesprochen. Der sensationshungrige Journalist spekulierte über einen Racheakt der Familie des Getöteten, doch angeblich hatte es keine lebenden Angehörigen mehr gegeben.
Amelie fragte sich, ob die Familie des neuesten Opfers die Zeitung verklagen konnte, weil die Presse erneut den Mordfall von vor fünf Jahren aufgriff und den seinerzeit freigesprochenen Hugo F. damit in Verbindung brachte.
Der Bus fuhr vor. Amelie faltete die Zeitung zusammen und versenkte sie in ihrer Handtasche. Ihre Beine zitterten, als sie die Stufen hinaufstieg.
»Hey, junge Dame, Sie müssen die Busfahrt beza hlen!«
»Wie bitte? Oh, ja natürlich.« Amelie hatte sich so sehr in ihre Gedanken vergraben, dass sie vergessen ha tte, ein Ticket beim Fahrer zu lösen. Er bedachte sie mit einem grimmigen Blick, murmelte etwas von der »frechen Jungend von heute« und fuhr härter an als nötig, noch bevor Amelie einen Platz gefunden hatte. Beinahe wäre sie gefallen.
Während der Fahrt rasten ihre Gedanken, und ihr Herz schlug so kräftig gegen ihre Rippen, dass sie b efürchtete, es würde aus ihrer Brust springen. Sie war sich vollkommen sicher, dass die Mordfälle miteinander in Verbindung standen. Es wäre einem seltsamen Zufall gleichgekommen, wenn ausgerechnet derjenige Klinikangestellte, der Loan damals - vielleicht - ermordet hatte, auf ebendiesem Dach selbst den Tod gefunden hätte. Amelie hielt es für wahrscheinlich, dass er zu Unrecht freigesprochen wurde. Es passte einfach alles zusammen! Zuerst erleidet Leif einen tödlichen Surfunfall, dann sterben Loans und Leifs leibliche Mutter und ihr neuer Lebensgefährte - ertrunken im Teich ihrer Villa. Vor nicht einmal einer Woche findet Amelie den leiblichen Vater der Zwillinge tot in seiner Badewanne. Und gerade erst gestern stirbt ein Mann, dem man vorgeworfen hatte, Loan ermordet zu haben. Das einzige, das definitiv nicht ins Bild passte, war die Tatsache, dass Loan selbst nicht mehr unter den Lebenden weilte - natürlich ertrunken. Amelie war sich sicher, dass die Polizei auch nur aus diesem Grund die Fälle nicht miteinander in Zusammenhang brachte. Die Familien Hellström und Eriksson existierten offiziell nicht mehr. Es musste einfach ein Racheakt von Loan gewesen sein, und Amelie hätte ihre Hand dafür ins Feuer gelegt, dass auch er ein Draug war, wie Leif sich selbst bezeichnete. Allerdings hatte er behauptet, Geister seien mit Ausnahme von ihm nicht dazu in der Lage, Gestalt anzunehmen, geschweige denn munter durch die Gegend zu laufen und Menschen zu ermorden. Verdammt! Wo war das fehlende Puzzleteil?
Amelie hätte beinahe ihre Haltestelle verpasst. Im letzten Augenblick, ehe sich die Bustüren wieder schlo ssen, stolperte sie aus dem Wagen auf die einsame Hauptstraße von
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