Herzenskälte: Ein Fall für Leitner und Grohmann (German Edition)
»Wir werden sehen, wie es läuft.«
Jennifer nickte grimmig.
Als Erstes nahm sie die Kopfschmerzen wahr. Sie bohrten sich wie ein brennender Pfeil in ihren Hinterkopf. Was zum Teufel war geschehen? Erinnerungsfetzen spülten an die Oberfläche ihres Bewusstseins, blitzten jedoch nur kurz auf, bevor sie wieder im Nirwana versanken.
Es dauerte mehrere Minuten, bis sie begriff, dass sie nicht träumte. Sie spürte die Fesseln um ihre Fuß- und Handgelenke und schmeckte den Weichspüler, mit dem das Stück Stoff gewaschen worden war, das in ihrem Mund steckte. Die harte, unebene Unterlage, auf der sie lag, war kalt und schaukelte.
Motorengeräusche. Sie lag in einem Auto, in einem Transporter … In seinem Transporter!
Er hatte sie in sein Fahrzeug gelockt. Sie waren ein Stück weit gefahren. Eine Nebenstrecke. Sie war noch viel zu sehr mit sich und ihrer Wut beschäftigt gewesen, um auf den Weg zu achten. Dann war er in einen Waldweg abgebogen und hatte angehalten. Etwas mit dem Motor sei nicht in Ordnung, hatte er gesagt.
Sie war mit ihm ausgestiegen, denn er hatte sie um Hilfe gebeten. Sie hatte sich über den offenen Motorraum gebeugt, das Kabel, das er erwähnt hatte, aber nicht sehen können. In der Dunkelheit war unter der Motorhaube ohnehin nichts zu erkennen. Dann hatte sie einen heftigen Schlag am Hinterkopf gespürt, und es war dunkel um sie herum geworden.
Erst jetzt setzte die Angst ein. Eisig ergoss sie sich in ihren Brustkorb und breitete sich wie eine Schockwelle in ihrem gesamten Körper aus. Zuvor hatte sie nur wegen der Kälte gezittert, jetzt erfasste sie blanke Panik.
Was hatte der Kerl mit ihr vor? Wohin brachte er sie?
Plötzlich schoss ihr die Frage durch den Kopf: Wird er mich umbringen? Werde ich sterben?
Es hatte sehr viele, viel zu viele Zeiten in ihrem Leben gegeben, in denen ihr Selbstmord als einzig denkbarer Ausweg erschienen war. Sie hatte nachts auf Gleisen gestanden und auf den nächsten ICE gewartet, hatte über Wochen hinweg entschlossen Tabletten gesammelt oder auf Balkongeländern im fünfzehnten Stockwerk balanciert. Wochen hatte sie damit zugebracht, sich über Mittel und Wege zu informieren, wie sie diese Welt endlich verlassen könnte – todsicher, ohne die Möglichkeit der Wiederkehr.
Und jetzt glomm auf einmal ein Gedanke in ihr auf, der ihr bisher immer fremd und unerreichbar erschienen war.
Herrgott, ich will nicht sterben!
Selina versuchte sich umzudrehen. Sie blinzelte, konnte aber nichts erkennen. Sie lauschte, doch da waren nur das Quietschen von Metall und das Röhren des Motors. Wo brachte er sie hin? Wie lange war sie bewusstlos gewesen?
Wieso war sie überhaupt in dieses gottverdammte Auto eingestiegen?!
Die letzte Frage war leicht zu beantworten. Wegen Tobias. Nur wegen Tobias und seiner verdammten Vorliebe für unschuldige pubertierende Mädchen!
Sie hatte seinem Treiben lange Zeit zugesehen, die Augen davor verschlossen, ihn sein Ding machen lassen. Die Mädchen waren alt genug, er bewegte sich zwar in Grauzonen, doch niemand konnte ihm etwas anhaben.
Nach der ersten Anzeige hatte sie gehofft, er würde endlich zur Vernunft kommen. Sie hatte sich sogar insgeheim gewünscht, er würde irgendeine Strafe aufgebrummt bekommen, nur damit er endlich begriff, welche moralische Schuld er auf sich lud.
Doch vergebens.
Ihr war nichts anderes übriggeblieben, als die Mädchen zu warnen oder zumindest zu versuchen, sie zu vertreiben, und zwar ohne ihre eigene Beziehung zu ihrem Bruder zu gefährden. Sie liebte ihn, er war ihre Familie und der einzige Mensch, der trotz ihrer psychischen Erkrankungen immer zu ihr gestanden hatte.
Ohne ihn wäre sie längst nicht mehr am Leben.
Welche Ironie, dass ausgerechnet er sie jetzt womöglich in die Arme des Todes getrieben hatte!
Vielleicht werde ich überleben. Er kann mir Gewalt antun, aber vielleicht überlebe ich .
Ach, ja?, fragte eine hämische Stimme in ihrem Kopf. Du kennst ihn. Du kennst seinen Namen. Du weißt, wer er ist! Du würdest ihn doch verraten. Was auch immer er dir antut: Du wirst nicht überleben. Ganz sicher nicht.
Alles wegen Tobias und dieser verfluchten Hannah!
Selina hatte sich angewöhnt, sich von den Eroberungen ihres Bruders fernzuhalten, sobald sie verloren waren. Unentrinnbar im Netz der Spinne gefangen. Doch Hannah war anders gewesen. Sie hatte Stärke bewiesen. Tobias hatte es nicht geschafft, sie dazu zu bringen, dass sie sich selbst aufgab und ihm ein paar Wochen lang
Weitere Kostenlose Bücher